Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

sich ausgedacht, und in der Einbildungskraft gesehen hat; er
trägt es vor mit dem Kalkül des Künstlers, mit dem geheimen
Kalkül, der dem Dichter angehörig ist, und dem Künstler je-
der Art. Mein "entourage" hat nichts mit meinem Urtheil
zu thun; unser "point de vue" über eine so wesentliche Sache
soll nicht, darf nicht verschieden, noch entgegengesetzt sein;
aber die Verschiedenheit unsrer Länder, das heißt unsre beiden
Sprachen und Lektüren, kann uns über die Orientales von
einander abweichen machen: und grade aus diesem Grunde,
aus diesem einzigen Grunde, der dieses Wunder zwischen
uns bewirken kann, schweige ich nicht, sondern fordere Sie
auf, das Buch, als wäre es eines von Goethe, oder ein von
mir geschriebenes, nochmal zu lesen. Es ist unmöglich, daß
Sie, mit sich selbst allein, nicht alle Schönheiten und Seuf-
zer, die es enthält, empfinden sollten. Was Cromwell betrifft,
den muß er umdichten. Hier ist er in denselben tiefen Irr-
thum gefallen, worin sich alle neueren französischen Schrift-
steller befinden, die jetzt nach Shakespeare dialogisiren, und
alle gemeinen Leute schildern, ohne die Mitte, das Prinzip
zu erfassen, woraus diese handeln und reden: anstatt daß
Shakespeare nur das Prinzip ihres Wesens, unter einer leich-
ten und geistreich gewählten Maske darstellt, und sie alle
für die Ewigkeit mahlt; ich z. B. begegne alle Tage solchen,
die nach seiner Erfindung sprechen, nicht mehr, nicht minder!
Die "Etats de Blois" und die "Barricades" sündigen durch
denselben Irrthum; als ob die Geschichte in den Schenken und
bei den Schilderhäusern sich machte: und nur da. Dies Volk
spricht ein wenig von den bedeutenden Personen; das ist

ſich ausgedacht, und in der Einbildungskraft geſehen hat; er
trägt es vor mit dem Kalkül des Künſtlers, mit dem geheimen
Kalkül, der dem Dichter angehörig iſt, und dem Künſtler je-
der Art. Mein „entourage“ hat nichts mit meinem Urtheil
zu thun; unſer „point de vue“ über eine ſo weſentliche Sache
ſoll nicht, darf nicht verſchieden, noch entgegengeſetzt ſein;
aber die Verſchiedenheit unſrer Länder, das heißt unſre beiden
Sprachen und Lektüren, kann uns über die Orientales von
einander abweichen machen: und grade aus dieſem Grunde,
aus dieſem einzigen Grunde, der dieſes Wunder zwiſchen
uns bewirken kann, ſchweige ich nicht, ſondern fordere Sie
auf, das Buch, als wäre es eines von Goethe, oder ein von
mir geſchriebenes, nochmal zu leſen. Es iſt unmöglich, daß
Sie, mit ſich ſelbſt allein, nicht alle Schönheiten und Seuf-
zer, die es enthält, empfinden ſollten. Was Cromwell betrifft,
den muß er umdichten. Hier iſt er in denſelben tiefen Irr-
thum gefallen, worin ſich alle neueren franzöſiſchen Schrift-
ſteller befinden, die jetzt nach Shakeſpeare dialogiſiren, und
alle gemeinen Leute ſchildern, ohne die Mitte, das Prinzip
zu erfaſſen, woraus dieſe handeln und reden: anſtatt daß
Shakeſpeare nur das Prinzip ihres Weſens, unter einer leich-
ten und geiſtreich gewählten Maske darſtellt, und ſie alle
für die Ewigkeit mahlt; ich z. B. begegne alle Tage ſolchen,
die nach ſeiner Erfindung ſprechen, nicht mehr, nicht minder!
Die „États de Blois“ und die „Barricades“ ſündigen durch
denſelben Irrthum; als ob die Geſchichte in den Schenken und
bei den Schilderhäuſern ſich machte: und nur da. Dies Volk
ſpricht ein wenig von den bedeutenden Perſonen; das iſt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0438" n="430"/>
&#x017F;ich ausgedacht, und in der Einbildungskraft ge&#x017F;ehen hat; er<lb/>
trägt es vor mit dem Kalkül des Kün&#x017F;tlers, mit dem geheimen<lb/>
Kalkül, der dem Dichter angehörig i&#x017F;t, und dem Kün&#x017F;tler je-<lb/>
der Art. Mein <hi rendition="#aq">&#x201E;entourage&#x201C;</hi> hat nichts mit meinem Urtheil<lb/>
zu thun; un&#x017F;er <hi rendition="#aq">&#x201E;point de vue&#x201C;</hi> über eine &#x017F;o we&#x017F;entliche Sache<lb/>
&#x017F;oll nicht, <hi rendition="#g">darf</hi> nicht ver&#x017F;chieden, noch entgegenge&#x017F;etzt &#x017F;ein;<lb/>
aber die Ver&#x017F;chiedenheit un&#x017F;rer Länder, das heißt un&#x017F;re beiden<lb/>
Sprachen und Lektüren, kann uns über die <hi rendition="#aq">Orientales</hi> von<lb/>
einander abweichen machen: und grade aus die&#x017F;em Grunde,<lb/>
aus die&#x017F;em <hi rendition="#g">einzigen Grunde</hi>, der die&#x017F;es Wunder zwi&#x017F;chen<lb/>
uns bewirken kann, <hi rendition="#g">&#x017F;chweige</hi> ich <hi rendition="#g">nicht</hi>, &#x017F;ondern fordere Sie<lb/>
auf, das Buch, als wäre es eines von Goethe, oder ein von<lb/>
mir ge&#x017F;chriebenes, nochmal zu le&#x017F;en. Es i&#x017F;t unmöglich, daß<lb/>
Sie, mit &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t allein, nicht alle Schönheiten und Seuf-<lb/>
zer, die es enthält, empfinden &#x017F;ollten. Was Cromwell betrifft,<lb/>
den muß er umdichten. Hier i&#x017F;t er in den&#x017F;elben tiefen Irr-<lb/>
thum gefallen, worin &#x017F;ich alle neueren franzö&#x017F;i&#x017F;chen Schrift-<lb/>
&#x017F;teller befinden, die jetzt nach Shake&#x017F;peare dialogi&#x017F;iren, und<lb/><hi rendition="#g">alle</hi> gemeinen Leute &#x017F;childern, ohne die Mitte, das Prinzip<lb/>
zu erfa&#x017F;&#x017F;en, woraus die&#x017F;e handeln und reden: an&#x017F;tatt daß<lb/>
Shake&#x017F;peare nur das Prinzip ihres We&#x017F;ens, unter einer leich-<lb/>
ten und gei&#x017F;treich gewählten Maske dar&#x017F;tellt, und &#x017F;ie <hi rendition="#g">alle</hi><lb/>
für die Ewigkeit mahlt; ich z. B. begegne alle Tage &#x017F;olchen,<lb/>
die nach &#x017F;einer Erfindung &#x017F;prechen, nicht mehr, nicht minder!<lb/>
Die <hi rendition="#aq">&#x201E;États de Blois&#x201C;</hi> und die <hi rendition="#aq">&#x201E;Barricades&#x201C;</hi> &#x017F;ündigen durch<lb/>
den&#x017F;elben Irrthum; als ob die Ge&#x017F;chichte in den Schenken und<lb/>
bei den Schilderhäu&#x017F;ern &#x017F;ich machte: und <hi rendition="#g">nur</hi> da. Dies Volk<lb/>
&#x017F;pricht <hi rendition="#g">ein wenig</hi> von den bedeutenden Per&#x017F;onen; das i&#x017F;t<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[430/0438] ſich ausgedacht, und in der Einbildungskraft geſehen hat; er trägt es vor mit dem Kalkül des Künſtlers, mit dem geheimen Kalkül, der dem Dichter angehörig iſt, und dem Künſtler je- der Art. Mein „entourage“ hat nichts mit meinem Urtheil zu thun; unſer „point de vue“ über eine ſo weſentliche Sache ſoll nicht, darf nicht verſchieden, noch entgegengeſetzt ſein; aber die Verſchiedenheit unſrer Länder, das heißt unſre beiden Sprachen und Lektüren, kann uns über die Orientales von einander abweichen machen: und grade aus dieſem Grunde, aus dieſem einzigen Grunde, der dieſes Wunder zwiſchen uns bewirken kann, ſchweige ich nicht, ſondern fordere Sie auf, das Buch, als wäre es eines von Goethe, oder ein von mir geſchriebenes, nochmal zu leſen. Es iſt unmöglich, daß Sie, mit ſich ſelbſt allein, nicht alle Schönheiten und Seuf- zer, die es enthält, empfinden ſollten. Was Cromwell betrifft, den muß er umdichten. Hier iſt er in denſelben tiefen Irr- thum gefallen, worin ſich alle neueren franzöſiſchen Schrift- ſteller befinden, die jetzt nach Shakeſpeare dialogiſiren, und alle gemeinen Leute ſchildern, ohne die Mitte, das Prinzip zu erfaſſen, woraus dieſe handeln und reden: anſtatt daß Shakeſpeare nur das Prinzip ihres Weſens, unter einer leich- ten und geiſtreich gewählten Maske darſtellt, und ſie alle für die Ewigkeit mahlt; ich z. B. begegne alle Tage ſolchen, die nach ſeiner Erfindung ſprechen, nicht mehr, nicht minder! Die „États de Blois“ und die „Barricades“ ſündigen durch denſelben Irrthum; als ob die Geſchichte in den Schenken und bei den Schilderhäuſern ſich machte: und nur da. Dies Volk ſpricht ein wenig von den bedeutenden Perſonen; das iſt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/438
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 430. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/438>, abgerufen am 28.11.2024.