er nicht Andere zwingen wollen? Das ist seine Ehrlichkeit. In seinen Briefen an Freunde find' ich ihn liebenswürdig. Ich glaube, kein gebildeter Franzose damaliger Zeit konnte in näherem vertraulichen Umgang der Liebenswürdigkeit ent- gehen: sonst wäre er mit niemand dazu gekommen. Soviel Ächtes enthielt ihre damalige Gesammtbildung, und das, was in der Gesellschaft herrschte.
Den 6. Januar 1821.
Gestern lernte ich zum erstenmale, daß man doch einen Andern mehr liebt, als sich; wir können die Eigenschaften, die wir für die wesentlich menschlichsten halten, für die lie- benswürdigsten, rührendsten, wenn wir sie uns selbst zugeste- hen müssen, nicht in uns lieben, uns nicht selbst dafür lieben. Wohl aber in Andern. Mit einer Art leidenschaftlicher An- erkennung, mit der zärtlichsten Verehrung. So wie wir un- sere Physionomie nicht sehen können; und doch unser Gesicht fühlen, wie kein anderes. Diese Entdeckung macht mir viel Vergnügen: nicht, weil ich mich und uns nun nicht mehr für so selbstisch halte, und für besser; aus Ehrgeiz möchte ich nicht über die Menschennatur hinaus, sie darum nicht erhö- hen: aber, daß wir dadurch reicher sind, vielfältiger, das freut mich; und auch darum, weil ich Wahres gefunden habe. Nur der Tag ist mir versüßt, wo ich durch oder für meine Gedan- ken etwas Neues erfahre. Dieses Neue verdank' ich der B.'schen Jugendkorrespondenz; die mich ganz belebt hat. Ich möchte ihm wieder ein Vergnügen machen!
Man
er nicht Andere zwingen wollen? Das iſt ſeine Ehrlichkeit. In ſeinen Briefen an Freunde find’ ich ihn liebenswürdig. Ich glaube, kein gebildeter Franzoſe damaliger Zeit konnte in näherem vertraulichen Umgang der Liebenswürdigkeit ent- gehen: ſonſt wäre er mit niemand dazu gekommen. Soviel Ächtes enthielt ihre damalige Geſammtbildung, und das, was in der Geſellſchaft herrſchte.
Den 6. Januar 1821.
Geſtern lernte ich zum erſtenmale, daß man doch einen Andern mehr liebt, als ſich; wir können die Eigenſchaften, die wir für die weſentlich menſchlichſten halten, für die lie- benswürdigſten, rührendſten, wenn wir ſie uns ſelbſt zugeſte- hen müſſen, nicht in uns lieben, uns nicht ſelbſt dafür lieben. Wohl aber in Andern. Mit einer Art leidenſchaftlicher An- erkennung, mit der zärtlichſten Verehrung. So wie wir un- ſere Phyſionomie nicht ſehen können; und doch unſer Geſicht fühlen, wie kein anderes. Dieſe Entdeckung macht mir viel Vergnügen: nicht, weil ich mich und uns nun nicht mehr für ſo ſelbſtiſch halte, und für beſſer; aus Ehrgeiz möchte ich nicht über die Menſchennatur hinaus, ſie darum nicht erhö- hen: aber, daß wir dadurch reicher ſind, vielfältiger, das freut mich; und auch darum, weil ich Wahres gefunden habe. Nur der Tag iſt mir verſüßt, wo ich durch oder für meine Gedan- ken etwas Neues erfahre. Dieſes Neue verdank’ ich der B.’ſchen Jugendkorreſpondenz; die mich ganz belebt hat. Ich möchte ihm wieder ein Vergnügen machen!
Man
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0040"n="32"/>
er nicht Andere zwingen wollen? Das iſt ſeine Ehrlichkeit.<lb/>
In ſeinen Briefen an Freunde find’ ich ihn liebenswürdig.<lb/>
Ich glaube, kein gebildeter Franzoſe damaliger Zeit konnte<lb/>
in näherem vertraulichen Umgang der Liebenswürdigkeit ent-<lb/>
gehen: ſonſt wäre er mit niemand dazu gekommen. Soviel<lb/>
Ächtes enthielt ihre damalige Geſammtbildung, und das, was<lb/>
in der Geſellſchaft herrſchte.</p></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="3"><dateline><hirendition="#et">Den 6. Januar 1821.</hi></dateline><lb/><p>Geſtern lernte ich zum erſtenmale, daß man doch einen<lb/>
Andern mehr liebt, als ſich; wir können die Eigenſchaften,<lb/>
die wir für die weſentlich menſchlichſten halten, für die lie-<lb/>
benswürdigſten, rührendſten, wenn wir ſie uns ſelbſt zugeſte-<lb/>
hen müſſen, nicht in uns lieben, uns nicht ſelbſt dafür lieben.<lb/>
Wohl aber in Andern. Mit einer Art leidenſchaftlicher An-<lb/>
erkennung, mit der zärtlichſten Verehrung. So wie wir un-<lb/>ſere Phyſionomie nicht ſehen können; und doch unſer Geſicht<lb/>
fühlen, wie kein anderes. Dieſe Entdeckung macht mir viel<lb/>
Vergnügen: nicht, weil ich mich und uns nun nicht mehr für<lb/>ſo ſelbſtiſch halte, und für beſſer; aus Ehrgeiz möchte ich<lb/>
nicht über die Menſchennatur hinaus, ſie darum nicht erhö-<lb/>
hen: aber, daß wir dadurch reicher ſind, vielfältiger, das freut<lb/>
mich; und auch darum, weil ich Wahres gefunden habe. Nur<lb/>
der Tag iſt mir verſüßt, wo ich durch oder für meine Gedan-<lb/>
ken etwas Neues erfahre. Dieſes Neue verdank’ ich der<lb/>
B.’ſchen Jugendkorreſpondenz; die mich ganz belebt hat. Ich<lb/>
möchte ihm wieder ein Vergnügen machen!</p></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><fwplace="bottom"type="catch">Man</fw><lb/></div></div></body></text></TEI>
[32/0040]
er nicht Andere zwingen wollen? Das iſt ſeine Ehrlichkeit.
In ſeinen Briefen an Freunde find’ ich ihn liebenswürdig.
Ich glaube, kein gebildeter Franzoſe damaliger Zeit konnte
in näherem vertraulichen Umgang der Liebenswürdigkeit ent-
gehen: ſonſt wäre er mit niemand dazu gekommen. Soviel
Ächtes enthielt ihre damalige Geſammtbildung, und das, was
in der Geſellſchaft herrſchte.
Den 6. Januar 1821.
Geſtern lernte ich zum erſtenmale, daß man doch einen
Andern mehr liebt, als ſich; wir können die Eigenſchaften,
die wir für die weſentlich menſchlichſten halten, für die lie-
benswürdigſten, rührendſten, wenn wir ſie uns ſelbſt zugeſte-
hen müſſen, nicht in uns lieben, uns nicht ſelbſt dafür lieben.
Wohl aber in Andern. Mit einer Art leidenſchaftlicher An-
erkennung, mit der zärtlichſten Verehrung. So wie wir un-
ſere Phyſionomie nicht ſehen können; und doch unſer Geſicht
fühlen, wie kein anderes. Dieſe Entdeckung macht mir viel
Vergnügen: nicht, weil ich mich und uns nun nicht mehr für
ſo ſelbſtiſch halte, und für beſſer; aus Ehrgeiz möchte ich
nicht über die Menſchennatur hinaus, ſie darum nicht erhö-
hen: aber, daß wir dadurch reicher ſind, vielfältiger, das freut
mich; und auch darum, weil ich Wahres gefunden habe. Nur
der Tag iſt mir verſüßt, wo ich durch oder für meine Gedan-
ken etwas Neues erfahre. Dieſes Neue verdank’ ich der
B.’ſchen Jugendkorreſpondenz; die mich ganz belebt hat. Ich
möchte ihm wieder ein Vergnügen machen!
Man
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/40>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.