bieten müssen. Theater kann sehr schön sein, wenn es sich auch jetzt so verkehrt zeigt. --
S. 172. "Denn so wunderlich ist der Mensch gesinnt, daß er von dem Unwerth irgend eines geliebten Gegenstandes zwar überzeugt sein, -- aber ihn doch nicht von Andern auf gleiche Weise behandelt wissen will; und vielleicht regt sich der Geist des Widerspruchs, der in allen Menschen wohnt, nie lebendiger und wirksamer, als in solchem Falle." Nicht aus Widerspruch möchten wir in solchem Fall widersprechen, son- dern weil wir einen -- oder viele -- nicht leicht auszuspre- chenden, oder leicht angehörten Grund haben, die gründlich verworfene Sache, wovon die Rede ist, auch zu lieben, zu wünschen, zu schätzen. Oder kann leicht ein Zustand gefunden werden, in welchem unsre Gerechtigkeit, Neigung und Über- zeugung mehr in's Herz zurückgescheucht wird, als in solchem Fall? Daher der falsche Schein des "Widerspruchs-Geistes," der "in uns Menschen wohnen" soll. Wir thun uns oft Un- recht. Wie lange schon möchte ich solche anscheinende Fehler der Menschen wie ein französischer Advokat die Verbrecher vertheidigen; aber nichts verkehren, wie die oft müssen.
An Rose, im Haag.
Berlin, Mittwoch Morgens halb 11. den 13. Mai 1829.
Alle Blätter und Blüthen heraus: aber kein Gefühl von Frühling. Nordostwind, oder reiner Nord; Starrkälte. Mir nicht unlieb, da ich doch noch -- achtundfünfzig -- kei-
25 *
bieten müſſen. Theater kann ſehr ſchön ſein, wenn es ſich auch jetzt ſo verkehrt zeigt. —
S. 172. „Denn ſo wunderlich iſt der Menſch geſinnt, daß er von dem Unwerth irgend eines geliebten Gegenſtandes zwar überzeugt ſein, — aber ihn doch nicht von Andern auf gleiche Weiſe behandelt wiſſen will; und vielleicht regt ſich der Geiſt des Widerſpruchs, der in allen Menſchen wohnt, nie lebendiger und wirkſamer, als in ſolchem Falle.“ Nicht aus Widerſpruch möchten wir in ſolchem Fall widerſprechen, ſon- dern weil wir einen — oder viele — nicht leicht auszuſpre- chenden, oder leicht angehörten Grund haben, die gründlich verworfene Sache, wovon die Rede iſt, auch zu lieben, zu wünſchen, zu ſchätzen. Oder kann leicht ein Zuſtand gefunden werden, in welchem unſre Gerechtigkeit, Neigung und Über- zeugung mehr in’s Herz zurückgeſcheucht wird, als in ſolchem Fall? Daher der falſche Schein des „Widerſpruchs-Geiſtes,“ der „in uns Menſchen wohnen“ ſoll. Wir thun uns oft Un- recht. Wie lange ſchon möchte ich ſolche anſcheinende Fehler der Menſchen wie ein franzöſiſcher Advokat die Verbrecher vertheidigen; aber nichts verkehren, wie die oft müſſen.
An Roſe, im Haag.
Berlin, Mittwoch Morgens halb 11. den 13. Mai 1829.
Alle Blätter und Blüthen heraus: aber kein Gefühl von Frühling. Nordoſtwind, oder reiner Nord; Starrkälte. Mir nicht unlieb, da ich doch noch — achtundfünfzig — kei-
25 *
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0395"n="387"/>
bieten müſſen. Theater kann ſehr ſchön ſein, wenn es ſich<lb/>
auch jetzt ſo verkehrt zeigt. —</p><lb/><p>S. 172. „Denn ſo wunderlich iſt der Menſch geſinnt,<lb/>
daß er von dem Unwerth irgend eines geliebten Gegenſtandes<lb/>
zwar überzeugt ſein, — aber ihn doch nicht von Andern auf<lb/>
gleiche Weiſe behandelt wiſſen will; und vielleicht regt ſich<lb/>
der Geiſt des Widerſpruchs, der in allen Menſchen wohnt, nie<lb/>
lebendiger und wirkſamer, als in ſolchem Falle.“ Nicht aus<lb/>
Widerſpruch möchten wir in ſolchem Fall widerſprechen, ſon-<lb/>
dern weil wir einen — oder viele — nicht leicht auszuſpre-<lb/>
chenden, oder leicht angehörten Grund haben, die gründlich<lb/>
verworfene Sache, wovon die Rede iſt, auch zu lieben, zu<lb/>
wünſchen, zu ſchätzen. Oder kann leicht ein Zuſtand gefunden<lb/>
werden, in welchem unſre Gerechtigkeit, Neigung und Über-<lb/>
zeugung mehr in’s Herz zurückgeſcheucht wird, als in ſolchem<lb/>
Fall? Daher der falſche Schein des „Widerſpruchs-Geiſtes,“<lb/>
der „in uns Menſchen wohnen“ſoll. Wir thun uns <hirendition="#g">oft</hi> Un-<lb/>
recht. Wie lange ſchon möchte ich ſolche anſcheinende Fehler<lb/>
der Menſchen wie ein franzöſiſcher Advokat die Verbrecher<lb/>
vertheidigen; aber nichts verkehren, wie die oft müſſen.</p></div></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="2"><head>An Roſe, im Haag.</head><lb/><divn="3"><dateline><hirendition="#et">Berlin, Mittwoch Morgens halb 11. den 13. Mai 1829.</hi></dateline><lb/><p>Alle Blätter und Blüthen heraus: aber kein Gefühl von<lb/>
Frühling. Nordoſtwind, oder reiner Nord; Starrkälte. Mir<lb/>
nicht unlieb, da ich doch <hirendition="#g">noch — achtundfünfzig</hi>— kei-<lb/><fwplace="bottom"type="sig">25 *</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[387/0395]
bieten müſſen. Theater kann ſehr ſchön ſein, wenn es ſich
auch jetzt ſo verkehrt zeigt. —
S. 172. „Denn ſo wunderlich iſt der Menſch geſinnt,
daß er von dem Unwerth irgend eines geliebten Gegenſtandes
zwar überzeugt ſein, — aber ihn doch nicht von Andern auf
gleiche Weiſe behandelt wiſſen will; und vielleicht regt ſich
der Geiſt des Widerſpruchs, der in allen Menſchen wohnt, nie
lebendiger und wirkſamer, als in ſolchem Falle.“ Nicht aus
Widerſpruch möchten wir in ſolchem Fall widerſprechen, ſon-
dern weil wir einen — oder viele — nicht leicht auszuſpre-
chenden, oder leicht angehörten Grund haben, die gründlich
verworfene Sache, wovon die Rede iſt, auch zu lieben, zu
wünſchen, zu ſchätzen. Oder kann leicht ein Zuſtand gefunden
werden, in welchem unſre Gerechtigkeit, Neigung und Über-
zeugung mehr in’s Herz zurückgeſcheucht wird, als in ſolchem
Fall? Daher der falſche Schein des „Widerſpruchs-Geiſtes,“
der „in uns Menſchen wohnen“ ſoll. Wir thun uns oft Un-
recht. Wie lange ſchon möchte ich ſolche anſcheinende Fehler
der Menſchen wie ein franzöſiſcher Advokat die Verbrecher
vertheidigen; aber nichts verkehren, wie die oft müſſen.
An Roſe, im Haag.
Berlin, Mittwoch Morgens halb 11. den 13. Mai 1829.
Alle Blätter und Blüthen heraus: aber kein Gefühl von
Frühling. Nordoſtwind, oder reiner Nord; Starrkälte. Mir
nicht unlieb, da ich doch noch — achtundfünfzig — kei-
25 *
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 387. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/395>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.