S. 15. Die großen Schauspieler ahndeten nicht allein, daß durch den neugebrauchten Vers die Freiheit, in der sie sich bewegten, gehemmt werden würde, sondern sie fühlten, daß es selten der richtige Vers war, den man ihnen bot. Es kann bestimmt ein ganz zur Situation erforderlicher, in ihr gegrün- deter Vers nicht hindern. Allein zu leicht sind wir Alle mit einem dramatischen Vers aus Vorurtheil zufrieden. Das Vorurtheil besteht darin, daß eine Kunstform da sein soll, un- ter jeder Bedingung; da doch einen Karakter darzustellen in einer bestimmten Lage die erste vernünftige Bedingung zu ei- ner Zusammenstellung von Karakteren, und deren Handlungen zu Einer verschlungen ein Theaterstück ausmacht. Dies ist so wahr, daß die Bürleske auch darin mitbesteht, daß die Rede und der Vers öfters gezwungen erscheinen, und so der Autor willigend mitspielt: welche Thatsache umgekehrt dies eben bei ernsten Werken als ganz unstatthaft darthut.
Wohl hat Schiller unsern Schauspielern unendlich ge- schadet; wenn er ihnen auch empor geholfen hat. Sage es Tieck nur dreist! Aber man kann so etwas nicht dreist sagen; nicht weil man als Ketzer verschrieen und angeschrieen würde: das wäre zu ertragen; nicht aber die Mißverständnisse und üblen Folgen, in den Heeren von ungehobelten Machwerken, die der Erste der Beste, nicht nur ein anerkannter Tieck, durch solch Wort hervorriefe. Schiller, wie gesagt, hat unsre Schau- spieler erhoben, aber nicht immer auf rechter Bahn: und dies eben gefiel dem Publikum und ihnen. Hätte doch Tieck dies Wort vor fünfzehn, achtzehn Jahren gesagt. Möglich war's, denn ich dachte es; und vielfältig habe ich dies sogar geäu-
III. 17
S. 15. Die großen Schauſpieler ahndeten nicht allein, daß durch den neugebrauchten Vers die Freiheit, in der ſie ſich bewegten, gehemmt werden würde, ſondern ſie fühlten, daß es ſelten der richtige Vers war, den man ihnen bot. Es kann beſtimmt ein ganz zur Situation erforderlicher, in ihr gegrün- deter Vers nicht hindern. Allein zu leicht ſind wir Alle mit einem dramatiſchen Vers aus Vorurtheil zufrieden. Das Vorurtheil beſteht darin, daß eine Kunſtform da ſein ſoll, un- ter jeder Bedingung; da doch einen Karakter darzuſtellen in einer beſtimmten Lage die erſte vernünftige Bedingung zu ei- ner Zuſammenſtellung von Karakteren, und deren Handlungen zu Einer verſchlungen ein Theaterſtück ausmacht. Dies iſt ſo wahr, daß die Bürleske auch darin mitbeſteht, daß die Rede und der Vers öfters gezwungen erſcheinen, und ſo der Autor willigend mitſpielt: welche Thatſache umgekehrt dies eben bei ernſten Werken als ganz unſtatthaft darthut.
Wohl hat Schiller unſern Schauſpielern unendlich ge- ſchadet; wenn er ihnen auch empor geholfen hat. Sage es Tieck nur dreiſt! Aber man kann ſo etwas nicht dreiſt ſagen; nicht weil man als Ketzer verſchrieen und angeſchrieen würde: das wäre zu ertragen; nicht aber die Mißverſtändniſſe und üblen Folgen, in den Heeren von ungehobelten Machwerken, die der Erſte der Beſte, nicht nur ein anerkannter Tieck, durch ſolch Wort hervorriefe. Schiller, wie geſagt, hat unſre Schau- ſpieler erhoben, aber nicht immer auf rechter Bahn: und dies eben gefiel dem Publikum und ihnen. Hätte doch Tieck dies Wort vor fünfzehn, achtzehn Jahren geſagt. Möglich war’s, denn ich dachte es; und vielfältig habe ich dies ſogar geäu-
III. 17
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S. 15. Die großen Schauſpieler ahndeten nicht allein,
daß durch den neugebrauchten Vers die Freiheit, in der ſie
ſich bewegten, gehemmt werden würde, ſondern ſie fühlten, daß
es ſelten der richtige Vers war, den man ihnen bot. Es kann
beſtimmt ein ganz zur Situation erforderlicher, in ihr gegrün-
deter Vers nicht hindern. Allein zu leicht ſind wir Alle mit
einem dramatiſchen Vers aus Vorurtheil zufrieden. Das
Vorurtheil beſteht darin, daß eine Kunſtform da ſein ſoll, un-
ter jeder Bedingung; da doch einen Karakter darzuſtellen in
einer beſtimmten Lage die erſte vernünftige Bedingung zu ei-
ner Zuſammenſtellung von Karakteren, und deren Handlungen
zu Einer verſchlungen ein Theaterſtück ausmacht. Dies iſt ſo
wahr, daß die Bürleske auch darin mitbeſteht, daß die Rede
und der Vers öfters gezwungen erſcheinen, und ſo der Autor
willigend mitſpielt: welche Thatſache umgekehrt dies eben bei
ernſten Werken als ganz unſtatthaft darthut.
Wohl hat Schiller unſern Schauſpielern unendlich ge-
ſchadet; wenn er ihnen auch empor geholfen hat. Sage es
Tieck nur dreiſt! Aber man kann ſo etwas nicht dreiſt ſagen;
nicht weil man als Ketzer verſchrieen und angeſchrieen würde:
das wäre zu ertragen; nicht aber die Mißverſtändniſſe und
üblen Folgen, in den Heeren von ungehobelten Machwerken,
die der Erſte der Beſte, nicht nur ein anerkannter Tieck, durch
ſolch Wort hervorriefe. Schiller, wie geſagt, hat unſre Schau-
ſpieler erhoben, aber nicht immer auf rechter Bahn: und dies
eben gefiel dem Publikum und ihnen. Hätte doch Tieck dies
Wort vor fünfzehn, achtzehn Jahren geſagt. Möglich war’s,
denn ich dachte es; und vielfältig habe ich dies ſogar geäu-
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/265>, abgerufen am 22.11.2024.
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