chern der Geschichte steht; aber in den besten Büchern steht nicht alles, was im Leben sich ereignen muß. Und gleich fehlt auch ein Mann, sobald er nur deßwegen handelt, um in den Geschichtsbüchern vorzukommen; und so ist auch das herrlichste Geschichtsbuch komplet leer für den, der sich nicht in der Welt selbst ersehn hat, was darin aufgezeichnet worden, und besprochen ist. Die Wahrheit dieser Behauptung wird ein jeder an sich selbst erprobt haben, der ein solches Buch zwei- mal liest; in der Jugend, und dann in vorgeschrittenen Jah- ren. Auch ist als Thatsache nachzuweisen, daß alle wahrhaft große, weiterlebende, auf die Nachwelt gekommene Historiker und Dichter mitwirkende Männer im Staate, und im Leben mit Andern vielverflochtene Menschen waren. Bloße Bücher- leute werden immer nur wieder zum Büchermachen gebraucht werden können; und am Ende ist ihr bestes Glück, einmal die Nahrung lebendiger, lebenverbreitender Menschen zu werden. Ich glaube nicht, daß Einer das Dasein der Griechen, Rö- mer, Indier, der Menschen des alten Testaments, versteht -- kennt er auch die Zahl der Kapitel, Namen, Jahreszahlen, geographische Lage, Psalmen, Lieder und Sprüche ohne zu stocken auswendig -- wenn er sich nicht ihr Leben aus un- serm übersetzt; und jene Schätze ganz in dem Schatz und Reich- thum des unsern gefunden hat, zu finden weiß; wie er fremde Sprachen auch nur durch seine jetzige lernt. Sprache und Le- ben ist nur Entwickelung der Mitgift; die alle Erdenkinder bis jetzt gleich zuertheilt bekommen. Wir können nicht Fra- gen genug an uns selbst stellen; das Beantwortete immer wie- der von neuem erwägen! Nur so schwinden alle vorgefaßten
chern der Geſchichte ſteht; aber in den beſten Büchern ſteht nicht alles, was im Leben ſich ereignen muß. Und gleich fehlt auch ein Mann, ſobald er nur deßwegen handelt, um in den Geſchichtsbüchern vorzukommen; und ſo iſt auch das herrlichſte Geſchichtsbuch komplet leer für den, der ſich nicht in der Welt ſelbſt erſehn hat, was darin aufgezeichnet worden, und beſprochen iſt. Die Wahrheit dieſer Behauptung wird ein jeder an ſich ſelbſt erprobt haben, der ein ſolches Buch zwei- mal lieſt; in der Jugend, und dann in vorgeſchrittenen Jah- ren. Auch iſt als Thatſache nachzuweiſen, daß alle wahrhaft große, weiterlebende, auf die Nachwelt gekommene Hiſtoriker und Dichter mitwirkende Männer im Staate, und im Leben mit Andern vielverflochtene Menſchen waren. Bloße Bücher- leute werden immer nur wieder zum Büchermachen gebraucht werden können; und am Ende iſt ihr beſtes Glück, einmal die Nahrung lebendiger, lebenverbreitender Menſchen zu werden. Ich glaube nicht, daß Einer das Daſein der Griechen, Rö- mer, Indier, der Menſchen des alten Teſtaments, verſteht — kennt er auch die Zahl der Kapitel, Namen, Jahreszahlen, geographiſche Lage, Pſalmen, Lieder und Sprüche ohne zu ſtocken auswendig — wenn er ſich nicht ihr Leben aus un- ſerm überſetzt; und jene Schätze ganz in dem Schatz und Reich- thum des unſern gefunden hat, zu finden weiß; wie er fremde Sprachen auch nur durch ſeine jetzige lernt. Sprache und Le- ben iſt nur Entwickelung der Mitgift; die alle Erdenkinder bis jetzt gleich zuertheilt bekommen. Wir können nicht Fra- gen genug an uns ſelbſt ſtellen; das Beantwortete immer wie- der von neuem erwägen! Nur ſo ſchwinden alle vorgefaßten
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chern der Geſchichte ſteht; aber in den beſten Büchern ſteht
nicht alles, was im Leben ſich ereignen muß. Und gleich fehlt
auch ein Mann, ſobald er nur deßwegen handelt, um in den
Geſchichtsbüchern vorzukommen; und ſo iſt auch das herrlichſte
Geſchichtsbuch komplet leer für den, der ſich nicht in der Welt
ſelbſt erſehn hat, was darin aufgezeichnet worden, und
beſprochen iſt. Die Wahrheit dieſer Behauptung wird ein
jeder an ſich ſelbſt erprobt haben, der ein ſolches Buch zwei-
mal lieſt; in der Jugend, und dann in vorgeſchrittenen Jah-
ren. Auch iſt als Thatſache nachzuweiſen, daß alle wahrhaft
große, weiterlebende, auf die Nachwelt gekommene Hiſtoriker
und Dichter mitwirkende Männer im Staate, und im Leben
mit Andern vielverflochtene Menſchen waren. Bloße Bücher-
leute werden immer nur wieder zum Büchermachen gebraucht
werden können; und am Ende iſt ihr beſtes Glück, einmal die
Nahrung lebendiger, lebenverbreitender Menſchen zu werden.
Ich glaube nicht, daß Einer das Daſein der Griechen, Rö-
mer, Indier, der Menſchen des alten Teſtaments, verſteht —
kennt er auch die Zahl der Kapitel, Namen, Jahreszahlen,
geographiſche Lage, Pſalmen, Lieder und Sprüche ohne zu
ſtocken auswendig — wenn er ſich nicht ihr Leben aus un-
ſerm überſetzt; und jene Schätze ganz in dem Schatz und Reich-
thum des unſern gefunden hat, zu finden weiß; wie er fremde
Sprachen auch nur durch ſeine jetzige lernt. Sprache und Le-
ben iſt nur Entwickelung der Mitgift; die alle Erdenkinder
bis jetzt gleich zuertheilt bekommen. Wir können nicht Fra-
gen genug an uns ſelbſt ſtellen; das Beantwortete immer wie-
der von neuem erwägen! Nur ſo ſchwinden alle vorgefaßten
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 250. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/258>, abgerufen am 22.11.2024.
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