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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

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nicht etwa die Geldnoth allzu groß geworden wäre! Ich glaube, daß
die göttliche Barmherzigkeit ihre größten Wunder für die letzten Augen-
blicke des Menschen vorbehält. Vielleicht ist ein Strahl des ewigen Lich-
tes besser durch die halbgeschlossenen, als durch die noch offnen Augen
gedrungen. Wie die absurden Räsonnements eins nach dem andern aus-
löschten, mußte doch etwas übrig bleiben; vielleicht war es der Trost
dessen, den er sich sein ganzes Leben hindurch ein dummes point d'honneur
gemacht hatte nicht anzuerkennen, und der am besten wußte, wie er zu
dieser Albernheit gekommen war.

Doch zu den Lebenden. Sehn wir uns diesen Sommer? Ich kann
noch nicht nach Berlin kommen, und fühle, wie sehr mich erfreuen würde,
Sie und Varnhagen irgendwo zu begegnen. Nicht bloß weil Sie Beide
einen so schönen Nachruhm bei den Meinigen zurückgelassen, was freilich
eine wesentliche Mitbedingung aller Wünsche eines so eingewachsenen
Hausvaters ist, wie ich bin; sondern weil ich glaube, daß Varnhagen
einer der berufensten Menschen unsrer Zeit ist, und der Sache nicht ent-
gehen wird, die seiner bedarf. Glauben Sie nicht, daß die Biographieen
und der vortreffliche Aussatz über den Tod Alexanders mir viel Neues
über ihn beigebracht. Ich habe es längst anerkannt, und nicht gesagt,
weil er mir persönlich unangenehm d. h. zu schroff und zu steil war.
Nun, da es anders ist, möchte ich ihn ganz leiden können. Darum
wäre es gut, sich bei schöner Sommerszeit irgendwo im Grünen auf ei-
nige Tage zu treffen.

Lesen Sie doch einstweilen die trefflichen Aufsätze von Görres in ei-
nem Journal, das der Katholik heißt und in Straßburg herauskommt;
in den letzten 13 Heften steht vieles glänzend und gründlich Schöne; nicht
Sie zu bekehren, aber um inne zu werden, wie mir zu Muth ist. Ihr
sensitives und sibyllinisches Wesen wird sich in Görres leichter zu finden
wissen. Auch dient Ihnen zum Antrieb dieser Lektüre, daß Gentz davon
bezaubert ist.

Mit der Ihnen bekannten, langjährigen Verehrung Ihr gehorsamster
Adam Müller.

Ich möchte wissen, was Ihr Herr Gemahl zu dem außerordentlichen
Phänomen von Lingards Geschichte von England meinte.




Es ist nicht nur das eine Idee zu nennen, wenn wir mit
unserm Geiste bis an die letzte Gränze unseres Erschauens ge-
langen; sondern jedesmal das, was wir in einer verständniß-

III. 16

nicht etwa die Geldnoth allzu groß geworden wäre! Ich glaube, daß
die göttliche Barmherzigkeit ihre größten Wunder für die letzten Augen-
blicke des Menſchen vorbehält. Vielleicht iſt ein Strahl des ewigen Lich-
tes beſſer durch die halbgeſchloſſenen, als durch die noch offnen Augen
gedrungen. Wie die abſurden Räſonnements eins nach dem andern aus-
löſchten, mußte doch etwas übrig bleiben; vielleicht war es der Troſt
deſſen, den er ſich ſein ganzes Leben hindurch ein dummes point d’honneur
gemacht hatte nicht anzuerkennen, und der am beſten wußte, wie er zu
dieſer Albernheit gekommen war.

Doch zu den Lebenden. Sehn wir uns dieſen Sommer? Ich kann
noch nicht nach Berlin kommen, und fühle, wie ſehr mich erfreuen würde,
Sie und Varnhagen irgendwo zu begegnen. Nicht bloß weil Sie Beide
einen ſo ſchönen Nachruhm bei den Meinigen zurückgelaſſen, was freilich
eine weſentliche Mitbedingung aller Wünſche eines ſo eingewachſenen
Hausvaters iſt, wie ich bin; ſondern weil ich glaube, daß Varnhagen
einer der berufenſten Menſchen unſrer Zeit iſt, und der Sache nicht ent-
gehen wird, die ſeiner bedarf. Glauben Sie nicht, daß die Biographieen
und der vortreffliche Auſſatz über den Tod Alexanders mir viel Neues
über ihn beigebracht. Ich habe es längſt anerkannt, und nicht geſagt,
weil er mir perſönlich unangenehm d. h. zu ſchroff und zu ſteil war.
Nun, da es anders iſt, möchte ich ihn ganz leiden können. Darum
wäre es gut, ſich bei ſchöner Sommerszeit irgendwo im Grünen auf ei-
nige Tage zu treffen.

Leſen Sie doch einſtweilen die trefflichen Aufſätze von Görres in ei-
nem Journal, das der Katholik heißt und in Straßburg herauskommt;
in den letzten 13 Heften ſteht vieles glänzend und gründlich Schöne; nicht
Sie zu bekehren, aber um inne zu werden, wie mir zu Muth iſt. Ihr
ſenſitives und ſibylliniſches Weſen wird ſich in Görres leichter zu finden
wiſſen. Auch dient Ihnen zum Antrieb dieſer Lektüre, daß Gentz davon
bezaubert iſt.

Mit der Ihnen bekannten, langjährigen Verehrung Ihr gehorſamſter
Adam Müller.

Ich möchte wiſſen, was Ihr Herr Gemahl zu dem außerordentlichen
Phänomen von Lingards Geſchichte von England meinte.




Es iſt nicht nur das eine Idee zu nennen, wenn wir mit
unſerm Geiſte bis an die letzte Gränze unſeres Erſchauens ge-
langen; ſondern jedesmal das, was wir in einer verſtändniß-

III. 16
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[241/0249] nicht etwa die Geldnoth allzu groß geworden wäre! Ich glaube, daß die göttliche Barmherzigkeit ihre größten Wunder für die letzten Augen- blicke des Menſchen vorbehält. Vielleicht iſt ein Strahl des ewigen Lich- tes beſſer durch die halbgeſchloſſenen, als durch die noch offnen Augen gedrungen. Wie die abſurden Räſonnements eins nach dem andern aus- löſchten, mußte doch etwas übrig bleiben; vielleicht war es der Troſt deſſen, den er ſich ſein ganzes Leben hindurch ein dummes point d’honneur gemacht hatte nicht anzuerkennen, und der am beſten wußte, wie er zu dieſer Albernheit gekommen war. Doch zu den Lebenden. Sehn wir uns dieſen Sommer? Ich kann noch nicht nach Berlin kommen, und fühle, wie ſehr mich erfreuen würde, Sie und Varnhagen irgendwo zu begegnen. Nicht bloß weil Sie Beide einen ſo ſchönen Nachruhm bei den Meinigen zurückgelaſſen, was freilich eine weſentliche Mitbedingung aller Wünſche eines ſo eingewachſenen Hausvaters iſt, wie ich bin; ſondern weil ich glaube, daß Varnhagen einer der berufenſten Menſchen unſrer Zeit iſt, und der Sache nicht ent- gehen wird, die ſeiner bedarf. Glauben Sie nicht, daß die Biographieen und der vortreffliche Auſſatz über den Tod Alexanders mir viel Neues über ihn beigebracht. Ich habe es längſt anerkannt, und nicht geſagt, weil er mir perſönlich unangenehm d. h. zu ſchroff und zu ſteil war. Nun, da es anders iſt, möchte ich ihn ganz leiden können. Darum wäre es gut, ſich bei ſchöner Sommerszeit irgendwo im Grünen auf ei- nige Tage zu treffen. Leſen Sie doch einſtweilen die trefflichen Aufſätze von Görres in ei- nem Journal, das der Katholik heißt und in Straßburg herauskommt; in den letzten 13 Heften ſteht vieles glänzend und gründlich Schöne; nicht Sie zu bekehren, aber um inne zu werden, wie mir zu Muth iſt. Ihr ſenſitives und ſibylliniſches Weſen wird ſich in Görres leichter zu finden wiſſen. Auch dient Ihnen zum Antrieb dieſer Lektüre, daß Gentz davon bezaubert iſt. Mit der Ihnen bekannten, langjährigen Verehrung Ihr gehorſamſter Adam Müller. Ich möchte wiſſen, was Ihr Herr Gemahl zu dem außerordentlichen Phänomen von Lingards Geſchichte von England meinte. Den 29. April 1826. Es iſt nicht nur das eine Idee zu nennen, wenn wir mit unſerm Geiſte bis an die letzte Gränze unſeres Erſchauens ge- langen; ſondern jedesmal das, was wir in einer verſtändniß- III. 16

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 241. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/249>, abgerufen am 22.12.2024.