Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

Nichts in der Welt fatiguirt so, als nachlassen und im-
mer nachlassen: und unaufhörlich unsre Nachsicht ausüben zu
sollen! Wir wollen in Erregung, in Erstaunen gesetzt sein,
im Guten oder Schlimmen. Ein Vorurtheil stolz und breit
aussprechen zu hören, wird unerträglich, wenn nicht wenig-
stens die Person, die damit aufzutreten wagt, es selbst erfun-
den hat. Aber wenn unaktive Köpfe, einer nach dem andern,
nichts andres thun, als bloß das Überkommene wiederholen,
dann fühlt man sich auf's äußerste und bis zur Rachelust
gebracht! --




Ich war irre, mit Vielen, bis jetzt über Freundschaft, oder
vielmehr über Freunde. Nicht muß ein Freund dem andern so
viel leisten, als dieser ihm. Solches handelsmäßige Verfahren
mag in allen übrigen Verhältnissen Statt finden! Unsre Freunde
sind die Gleichgesinnten, die wir, wie uns selbst, müssen ehren
können; Freunde sind Menschen, die von einander überzeugt
sind; aber bald muß der eine, bald der andere alles leisten,
ohne Kalkül anzustellen, und je etwas dafür zu erhalten, noch
zu erwarten, noch in sich zu fordern. Und so ist es auch in
der Welt; wir haben Freunde, denen wir leisten, und Freunde,
die uns leisten; und dies nach den verschiedenen Naturen der
Menschen und ihrer Lage gewähren zu lassen, grade darin
besteht die Freundschaft. In allen andern Verhältnissen herrscht
ja ein offenbarer Handel Ein Freund kann nur ein verehrtes


Nichts in der Welt fatiguirt ſo, als nachlaſſen und im-
mer nachlaſſen: und unaufhörlich unſre Nachſicht ausüben zu
ſollen! Wir wollen in Erregung, in Erſtaunen geſetzt ſein,
im Guten oder Schlimmen. Ein Vorurtheil ſtolz und breit
ausſprechen zu hören, wird unerträglich, wenn nicht wenig-
ſtens die Perſon, die damit aufzutreten wagt, es ſelbſt erfun-
den hat. Aber wenn unaktive Köpfe, einer nach dem andern,
nichts andres thun, als bloß das Überkommene wiederholen,
dann fühlt man ſich auf’s äußerſte und bis zur Racheluſt
gebracht! —




Ich war irre, mit Vielen, bis jetzt über Freundſchaft, oder
vielmehr über Freunde. Nicht muß ein Freund dem andern ſo
viel leiſten, als dieſer ihm. Solches handelsmäßige Verfahren
mag in allen übrigen Verhältniſſen Statt finden! Unſre Freunde
ſind die Gleichgeſinnten, die wir, wie uns ſelbſt, müſſen ehren
können; Freunde ſind Menſchen, die von einander überzeugt
ſind; aber bald muß der eine, bald der andere alles leiſten,
ohne Kalkül anzuſtellen, und je etwas dafür zu erhalten, noch
zu erwarten, noch in ſich zu fordern. Und ſo iſt es auch in
der Welt; wir haben Freunde, denen wir leiſten, und Freunde,
die uns leiſten; und dies nach den verſchiedenen Naturen der
Menſchen und ihrer Lage gewähren zu laſſen, grade darin
beſteht die Freundſchaft. In allen andern Verhältniſſen herrſcht
ja ein offenbarer Handel Ein Freund kann nur ein verehrtes

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0183" n="175"/>
          <div n="3">
            <dateline> <hi rendition="#et">Sonnabend, den 11. December 1824.</hi> </dateline><lb/>
            <p>Nichts in der Welt fatiguirt &#x017F;o, als nachla&#x017F;&#x017F;en und im-<lb/>
mer nachla&#x017F;&#x017F;en: und unaufhörlich un&#x017F;re Nach&#x017F;icht ausüben zu<lb/>
&#x017F;ollen! Wir wollen in Erregung, in Er&#x017F;taunen ge&#x017F;etzt &#x017F;ein,<lb/>
im Guten oder Schlimmen. Ein Vorurtheil &#x017F;tolz und breit<lb/>
aus&#x017F;prechen zu hören, wird unerträglich, wenn nicht wenig-<lb/>
&#x017F;tens die Per&#x017F;on, die damit aufzutreten wagt, es &#x017F;elb&#x017F;t erfun-<lb/>
den hat. Aber wenn unaktive Köpfe, einer nach dem andern,<lb/>
nichts andres thun, als bloß das Überkommene wiederholen,<lb/>
dann fühlt man &#x017F;ich auf&#x2019;s äußer&#x017F;te und bis zur Rachelu&#x017F;t<lb/>
gebracht! &#x2014;</p>
          </div><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <div n="3">
            <dateline> <hi rendition="#et">Donnerstag, den 16. December 1824.</hi> </dateline><lb/>
            <p>Ich war irre, mit Vielen, bis jetzt über Freund&#x017F;chaft, oder<lb/>
vielmehr über Freunde. Nicht muß ein Freund dem andern &#x017F;o<lb/>
viel lei&#x017F;ten, als die&#x017F;er ihm. Solches handelsmäßige Verfahren<lb/>
mag in allen übrigen Verhältni&#x017F;&#x017F;en Statt finden! Un&#x017F;re Freunde<lb/>
&#x017F;ind die Gleichge&#x017F;innten, die wir, wie uns &#x017F;elb&#x017F;t, mü&#x017F;&#x017F;en ehren<lb/>
können; Freunde &#x017F;ind Men&#x017F;chen, die von einander überzeugt<lb/>
&#x017F;ind; aber bald muß der eine, bald der andere alles lei&#x017F;ten,<lb/>
ohne Kalkül anzu&#x017F;tellen, und je etwas dafür zu erhalten, noch<lb/>
zu erwarten, noch in &#x017F;ich zu fordern. Und &#x017F;o i&#x017F;t es auch in<lb/>
der Welt; wir haben Freunde, denen wir lei&#x017F;ten, und Freunde,<lb/>
die uns lei&#x017F;ten; und dies nach den ver&#x017F;chiedenen Naturen der<lb/>
Men&#x017F;chen und ihrer Lage gewähren zu la&#x017F;&#x017F;en, grade darin<lb/>
be&#x017F;teht die Freund&#x017F;chaft. In allen andern Verhältni&#x017F;&#x017F;en herr&#x017F;cht<lb/>
ja ein offenbarer Handel Ein Freund kann nur ein verehrtes<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[175/0183] Sonnabend, den 11. December 1824. Nichts in der Welt fatiguirt ſo, als nachlaſſen und im- mer nachlaſſen: und unaufhörlich unſre Nachſicht ausüben zu ſollen! Wir wollen in Erregung, in Erſtaunen geſetzt ſein, im Guten oder Schlimmen. Ein Vorurtheil ſtolz und breit ausſprechen zu hören, wird unerträglich, wenn nicht wenig- ſtens die Perſon, die damit aufzutreten wagt, es ſelbſt erfun- den hat. Aber wenn unaktive Köpfe, einer nach dem andern, nichts andres thun, als bloß das Überkommene wiederholen, dann fühlt man ſich auf’s äußerſte und bis zur Racheluſt gebracht! — Donnerstag, den 16. December 1824. Ich war irre, mit Vielen, bis jetzt über Freundſchaft, oder vielmehr über Freunde. Nicht muß ein Freund dem andern ſo viel leiſten, als dieſer ihm. Solches handelsmäßige Verfahren mag in allen übrigen Verhältniſſen Statt finden! Unſre Freunde ſind die Gleichgeſinnten, die wir, wie uns ſelbſt, müſſen ehren können; Freunde ſind Menſchen, die von einander überzeugt ſind; aber bald muß der eine, bald der andere alles leiſten, ohne Kalkül anzuſtellen, und je etwas dafür zu erhalten, noch zu erwarten, noch in ſich zu fordern. Und ſo iſt es auch in der Welt; wir haben Freunde, denen wir leiſten, und Freunde, die uns leiſten; und dies nach den verſchiedenen Naturen der Menſchen und ihrer Lage gewähren zu laſſen, grade darin beſteht die Freundſchaft. In allen andern Verhältniſſen herrſcht ja ein offenbarer Handel Ein Freund kann nur ein verehrtes

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/183
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/183>, abgerufen am 22.12.2024.