aller Diskussionen. -- Herrlich spricht er von Sittenlehre; kurz, einleuchtend: wie klar vom Christenthum; nur zur Sache gehörig. (Man ruht bei solchem Vortrag, von den jetzt gang- baren; wo die Verfasser wie in Wolken kämpfend, zu ihren Wahrheiten gelangen wollen; oft deren Gebilde selbst dafür annehmen, und ausgeben wollen; und theils, hinter den Wol- ken nicht unterscheiden, was sie greifen, und anderntheils nichts zu gebrauchen wissen, was sie hervorbringen; und eben daher, so verworren als weitläufig sind.) "Wir leben ohne Sitten- lehre," sagt er, "wenn auch nicht ohne Sittlichkeit;" welches er der Güte und Kraft der menschlichen Natur durchdrungen dankt! Vortrefflich schildert er unsern Christenzustand. Mit wenigen, großen Strichen. Unter andern: "Dort oben giebt es keine Fiskale und Verräther, und keine andere Klage hört der gnädige Richter an, als die der Kläger gegen sich selbst gewendet. Sie haben einen Gott des Himmels und einen Gott der Erde geschaffen, die sie als Partheihäupter betrach- ten, und mit deren einem man es verderben müsse, wolle man mit dem andern es halten! Man müsse unglücklich sein, um selig zu werden! Als wäre die Erde nicht auch ein Stück des Himmels, als wäre die Zeit nicht auch ein Theil der Ewig- keit, und Gott überall!" So fährt er eindringlich fort, mit den wenigsten Worten. Ich kann es bestimmt wissen, wie schwer das ist, und wie leicht dies ihm werden muß; weil ich eben so denke, und zu oft erfahren habe, daß ich es doch nicht sagen kann. "Jetzt ist auch künftig," sage ich oft. "Auf den Vater warten wir, der den Sohn mit dem heiligen Geist versöhne." Fichte und Lichtenberg zusammen im Ausdruck.
aller Diskuſſionen. — Herrlich ſpricht er von Sittenlehre; kurz, einleuchtend: wie klar vom Chriſtenthum; nur zur Sache gehörig. (Man ruht bei ſolchem Vortrag, von den jetzt gang- baren; wo die Verfaſſer wie in Wolken kämpfend, zu ihren Wahrheiten gelangen wollen; oft deren Gebilde ſelbſt dafür annehmen, und ausgeben wollen; und theils, hinter den Wol- ken nicht unterſcheiden, was ſie greifen, und anderntheils nichts zu gebrauchen wiſſen, was ſie hervorbringen; und eben daher, ſo verworren als weitläufig ſind.) „Wir leben ohne Sitten- lehre,“ ſagt er, „wenn auch nicht ohne Sittlichkeit;“ welches er der Güte und Kraft der menſchlichen Natur durchdrungen dankt! Vortrefflich ſchildert er unſern Chriſtenzuſtand. Mit wenigen, großen Strichen. Unter andern: „Dort oben giebt es keine Fiskale und Verräther, und keine andere Klage hört der gnädige Richter an, als die der Kläger gegen ſich ſelbſt gewendet. Sie haben einen Gott des Himmels und einen Gott der Erde geſchaffen, die ſie als Partheihäupter betrach- ten, und mit deren einem man es verderben müſſe, wolle man mit dem andern es halten! Man müſſe unglücklich ſein, um ſelig zu werden! Als wäre die Erde nicht auch ein Stück des Himmels, als wäre die Zeit nicht auch ein Theil der Ewig- keit, und Gott überall!“ So fährt er eindringlich fort, mit den wenigſten Worten. Ich kann es beſtimmt wiſſen, wie ſchwer das iſt, und wie leicht dies ihm werden muß; weil ich eben ſo denke, und zu oft erfahren habe, daß ich es doch nicht ſagen kann. „Jetzt iſt auch künftig,“ ſage ich oft. „Auf den Vater warten wir, der den Sohn mit dem heiligen Geiſt verſöhne.“ Fichte und Lichtenberg zuſammen im Ausdruck.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0160"n="152"/>
aller Diskuſſionen. — Herrlich ſpricht er von Sittenlehre;<lb/>
kurz, einleuchtend: wie klar vom Chriſtenthum; nur zur Sache<lb/>
gehörig. (Man ruht bei ſolchem Vortrag, von den jetzt gang-<lb/>
baren; wo die Verfaſſer wie in Wolken kämpfend, zu ihren<lb/>
Wahrheiten gelangen wollen; oft deren Gebilde ſelbſt dafür<lb/>
annehmen, und ausgeben wollen; und theils, hinter den Wol-<lb/>
ken nicht unterſcheiden, was ſie greifen, und anderntheils nichts<lb/>
zu gebrauchen wiſſen, was ſie hervorbringen; und eben daher,<lb/>ſo verworren als weitläufig ſind.) „Wir leben ohne Sitten-<lb/>
lehre,“ſagt er, „wenn auch nicht ohne Sittlichkeit;“ welches<lb/>
er der Güte und Kraft der menſchlichen Natur durchdrungen<lb/>
dankt! Vortrefflich ſchildert er unſern Chriſtenzuſtand. Mit<lb/>
wenigen, großen Strichen. Unter andern: „Dort oben giebt<lb/>
es keine Fiskale und Verräther, und keine andere Klage hört<lb/>
der gnädige Richter an, als die der Kläger gegen ſich ſelbſt<lb/>
gewendet. Sie haben einen Gott des Himmels und einen<lb/>
Gott der Erde geſchaffen, die ſie als Partheihäupter betrach-<lb/>
ten, und mit deren einem man es verderben müſſe, wolle man<lb/>
mit dem andern es halten! Man müſſe unglücklich ſein, um<lb/>ſelig zu werden! Als wäre die Erde nicht auch ein Stück<lb/>
des Himmels, als wäre die Zeit nicht auch ein Theil der Ewig-<lb/>
keit, und Gott überall!“ So fährt er eindringlich fort, mit<lb/>
den wenigſten Worten. Ich kann es beſtimmt wiſſen, wie<lb/>ſchwer das iſt, und wie leicht dies ihm werden muß; weil ich<lb/>
eben ſo denke, und zu oft erfahren habe, daß ich es doch nicht<lb/>ſagen kann. „Jetzt iſt auch künftig,“ſage ich oft. „Auf<lb/>
den Vater warten wir, der den Sohn mit dem heiligen Geiſt<lb/>
verſöhne.“ Fichte und Lichtenberg zuſammen im Ausdruck.<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[152/0160]
aller Diskuſſionen. — Herrlich ſpricht er von Sittenlehre;
kurz, einleuchtend: wie klar vom Chriſtenthum; nur zur Sache
gehörig. (Man ruht bei ſolchem Vortrag, von den jetzt gang-
baren; wo die Verfaſſer wie in Wolken kämpfend, zu ihren
Wahrheiten gelangen wollen; oft deren Gebilde ſelbſt dafür
annehmen, und ausgeben wollen; und theils, hinter den Wol-
ken nicht unterſcheiden, was ſie greifen, und anderntheils nichts
zu gebrauchen wiſſen, was ſie hervorbringen; und eben daher,
ſo verworren als weitläufig ſind.) „Wir leben ohne Sitten-
lehre,“ ſagt er, „wenn auch nicht ohne Sittlichkeit;“ welches
er der Güte und Kraft der menſchlichen Natur durchdrungen
dankt! Vortrefflich ſchildert er unſern Chriſtenzuſtand. Mit
wenigen, großen Strichen. Unter andern: „Dort oben giebt
es keine Fiskale und Verräther, und keine andere Klage hört
der gnädige Richter an, als die der Kläger gegen ſich ſelbſt
gewendet. Sie haben einen Gott des Himmels und einen
Gott der Erde geſchaffen, die ſie als Partheihäupter betrach-
ten, und mit deren einem man es verderben müſſe, wolle man
mit dem andern es halten! Man müſſe unglücklich ſein, um
ſelig zu werden! Als wäre die Erde nicht auch ein Stück
des Himmels, als wäre die Zeit nicht auch ein Theil der Ewig-
keit, und Gott überall!“ So fährt er eindringlich fort, mit
den wenigſten Worten. Ich kann es beſtimmt wiſſen, wie
ſchwer das iſt, und wie leicht dies ihm werden muß; weil ich
eben ſo denke, und zu oft erfahren habe, daß ich es doch nicht
ſagen kann. „Jetzt iſt auch künftig,“ ſage ich oft. „Auf
den Vater warten wir, der den Sohn mit dem heiligen Geiſt
verſöhne.“ Fichte und Lichtenberg zuſammen im Ausdruck.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 152. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/160>, abgerufen am 26.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.