Supplement; jedes Du ist ein Supplement zum großen Ich; wir sind gar nicht Ich, wir können und sollen aber Ich wer- den, wir sind Keime zum Ich-Werden." "Wir sollen uns zum großen Ich erheben," sagt er ferner. Längst einmal dacht' ich: wir sind nur Adjektive, noch kein völliges Substantiv. Auch kennen wir nur Eigenschaften. Nichts durchaus: davon fiel's mir ein. -- Auch sagt er gleich weiter, ganz lustig: "Aus Ökonomie giebt es nur Einen König. Müßten wir nicht haushälterisch zu Werke gehen, so wären wir Alle Kö- nige." Wir wären nur der eine ungetheilte Wille: jetzt, hier, lauter gespaltene. Unser Witz besteht bis jetzt darin, uns den großen Witz entbehrlich zu machen. Der Menschen Witz; und Menschen-Witz. --
S. 448. Ende eines Satzes: -- "Der Mann ist gewisser- maßen auch Weib, so wie das Weib Mann; entsteht etwa hieraus die verschiedene Schamhaftigkeit?" Das könnte keine Schamhaftigkeit zu Wege bringen. Das wäre nur ein dop- peltes Naturfaktum; und würde dadurch nichts Neues hervor- bringen. Die Besinnung verliert aber der Mensch nicht ohne Scham, d. h. er wird nicht ohne Scham unmenschlich, wenn er sich nicht mit den edelsten Motiven rechtfertigen kann. Er schämt sich einen Menschen ganz als Sache anzusehen in Be- sinnungslosigkeit. Diese Beziehung mit ihren Beziehungen erregt hier Scham. --
Was an Gedanken interessirt: (S. 449.) -- "So läßt sich ein an sich trivialer Gedanke sehr interessant bearbeiten; ein weitläuftiges Unternehmen der Art kann sehr interessant sein, ungeachtet das Resultat eine Armseligkeit ist" etc. Hier
III. 10
Supplement; jedes Du iſt ein Supplement zum großen Ich; wir ſind gar nicht Ich, wir können und ſollen aber Ich wer- den, wir ſind Keime zum Ich-Werden.“ „Wir ſollen uns zum großen Ich erheben,“ ſagt er ferner. Längſt einmal dacht’ ich: wir ſind nur Adjektive, noch kein völliges Subſtantiv. Auch kennen wir nur Eigenſchaften. Nichts durchaus: davon fiel’s mir ein. — Auch ſagt er gleich weiter, ganz luſtig: „Aus Ökonomie giebt es nur Einen König. Müßten wir nicht haushälteriſch zu Werke gehen, ſo wären wir Alle Kö- nige.“ Wir wären nur der eine ungetheilte Wille: jetzt, hier, lauter geſpaltene. Unſer Witz beſteht bis jetzt darin, uns den großen Witz entbehrlich zu machen. Der Menſchen Witz; und Menſchen-Witz. —
S. 448. Ende eines Satzes: — „Der Mann iſt gewiſſer- maßen auch Weib, ſo wie das Weib Mann; entſteht etwa hieraus die verſchiedene Schamhaftigkeit?“ Das könnte keine Schamhaftigkeit zu Wege bringen. Das wäre nur ein dop- peltes Naturfaktum; und würde dadurch nichts Neues hervor- bringen. Die Beſinnung verliert aber der Menſch nicht ohne Scham, d. h. er wird nicht ohne Scham unmenſchlich, wenn er ſich nicht mit den edelſten Motiven rechtfertigen kann. Er ſchämt ſich einen Menſchen ganz als Sache anzuſehen in Be- ſinnungsloſigkeit. Dieſe Beziehung mit ihren Beziehungen erregt hier Scham. —
Was an Gedanken intereſſirt: (S. 449.) — „So läßt ſich ein an ſich trivialer Gedanke ſehr intereſſant bearbeiten; ein weitläuftiges Unternehmen der Art kann ſehr intereſſant ſein, ungeachtet das Reſultat eine Armſeligkeit iſt“ ꝛc. Hier
III. 10
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Supplement; jedes Du iſt ein Supplement zum großen Ich;
wir ſind gar nicht Ich, wir können und ſollen aber Ich wer-
den, wir ſind Keime zum Ich-Werden.“ „Wir ſollen uns
zum großen Ich erheben,“ ſagt er ferner. Längſt einmal dacht’
ich: wir ſind nur Adjektive, noch kein völliges Subſtantiv.
Auch kennen wir nur Eigenſchaften. Nichts durchaus: davon
fiel’s mir ein. — Auch ſagt er gleich weiter, ganz luſtig:
„Aus Ökonomie giebt es nur Einen König. Müßten wir
nicht haushälteriſch zu Werke gehen, ſo wären wir Alle Kö-
nige.“ Wir wären nur der eine ungetheilte Wille: jetzt, hier,
lauter geſpaltene. Unſer Witz beſteht bis jetzt darin, uns den
großen Witz entbehrlich zu machen. Der Menſchen Witz; und
Menſchen-Witz. —
S. 448. Ende eines Satzes: — „Der Mann iſt gewiſſer-
maßen auch Weib, ſo wie das Weib Mann; entſteht etwa
hieraus die verſchiedene Schamhaftigkeit?“ Das könnte keine
Schamhaftigkeit zu Wege bringen. Das wäre nur ein dop-
peltes Naturfaktum; und würde dadurch nichts Neues hervor-
bringen. Die Beſinnung verliert aber der Menſch nicht ohne
Scham, d. h. er wird nicht ohne Scham unmenſchlich, wenn
er ſich nicht mit den edelſten Motiven rechtfertigen kann. Er
ſchämt ſich einen Menſchen ganz als Sache anzuſehen in Be-
ſinnungsloſigkeit. Dieſe Beziehung mit ihren Beziehungen
erregt hier Scham. —
Was an Gedanken intereſſirt: (S. 449.) — „So läßt
ſich ein an ſich trivialer Gedanke ſehr intereſſant bearbeiten;
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ſein, ungeachtet das Reſultat eine Armſeligkeit iſt“ ꝛc. Hier
III. 10
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 145. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/153>, abgerufen am 27.11.2024.
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