Geistbegabten zu den Gegenständen je folgen können, die der Geist sich auswählt, für wichtig erachtet, liebt oder haßt. Dies Gebiet ist den Unbegabten rein verschlossen; und sie mei- nen zu thun wie die Andern, aber ohne Dank.
Tugend muß Unschuld sein: sonst sind wir ein Schlacht- feld. Viele Leute wollen nur auf einem Schlachtfeld ruhen. Dabei fällt mir ein, was Goethe (vor fünf und zwanzig Jah- ren) in Karlsbad sagte: "Besser das schlechteste Theater, als die schönste Langeweile!" So die Tugendprätendenten: Ge- tümmel für's erste! Und schlechter Stolz!
"Illusion ist Gnade." --
Wie paradox! --
"Nur was ist, ist Gott; alles was geschieht, Illusion; und Illusion ist Gnade. Verliehenes."
Sonntag, den 31. August 1823.
Sonntag, den 31. August 1823.
Bei Lesung des Buchs: "Goethe in den Zeugnissen der Mitlebenden." Wie schön ist es, daß sich in den Tagen um Goethe's Geburtstag her eine ganze lesende Welt mit ihm be- schäftigt; über seine Werke zu denken angeregt wird; sie wohl nachliest; über ihn denkt und grübelt; von neuem erfährt, oder erinnert wird, was alles über ihn gesagt ist: und wir so zu einer Gemüths- und Geistesschau über uns selbst veran- laßt sind: eine Art vielfältiger Beichte, und Untersuchung da- zu: und gewiß Antrieb neuer Liebe und verstärkter Verehrung.
Geiſtbegabten zu den Gegenſtänden je folgen können, die der Geiſt ſich auswählt, für wichtig erachtet, liebt oder haßt. Dies Gebiet iſt den Unbegabten rein verſchloſſen; und ſie mei- nen zu thun wie die Andern, aber ohne Dank.
Tugend muß Unſchuld ſein: ſonſt ſind wir ein Schlacht- feld. Viele Leute wollen nur auf einem Schlachtfeld ruhen. Dabei fällt mir ein, was Goethe (vor fünf und zwanzig Jah- ren) in Karlsbad ſagte: „Beſſer das ſchlechteſte Theater, als die ſchönſte Langeweile!“ So die Tugendprätendenten: Ge- tümmel für’s erſte! Und ſchlechter Stolz!
„Illuſion iſt Gnade.“ —
Wie paradox! —
„Nur was iſt, iſt Gott; alles was geſchieht, Illuſion; und Illuſion iſt Gnade. Verliehenes.“
Sonntag, den 31. Auguſt 1823.
Sonntag, den 31. Auguſt 1823.
Bei Leſung des Buchs: „Goethe in den Zeugniſſen der Mitlebenden.“ Wie ſchön iſt es, daß ſich in den Tagen um Goethe’s Geburtstag her eine ganze leſende Welt mit ihm be- ſchäftigt; über ſeine Werke zu denken angeregt wird; ſie wohl nachlieſt; über ihn denkt und grübelt; von neuem erfährt, oder erinnert wird, was alles über ihn geſagt iſt: und wir ſo zu einer Gemüths- und Geiſtesſchau über uns ſelbſt veran- laßt ſind: eine Art vielfältiger Beichte, und Unterſuchung da- zu: und gewiß Antrieb neuer Liebe und verſtärkter Verehrung.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0127"n="119"/>
Geiſtbegabten zu den Gegenſtänden je folgen können, die der<lb/>
Geiſt ſich auswählt, für wichtig erachtet, liebt oder haßt.<lb/>
Dies Gebiet iſt den Unbegabten rein verſchloſſen; und ſie mei-<lb/>
nen zu thun wie die Andern, aber ohne Dank.</p></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="3"><p>Tugend muß Unſchuld ſein: ſonſt ſind wir ein Schlacht-<lb/>
feld. Viele Leute wollen nur auf einem Schlachtfeld ruhen.<lb/>
Dabei fällt mir ein, was Goethe (vor fünf und zwanzig Jah-<lb/>
ren) in Karlsbad ſagte: „Beſſer das ſchlechteſte Theater, als<lb/>
die ſchönſte Langeweile!“ So die Tugendprätendenten: Ge-<lb/>
tümmel für’s erſte! Und ſchlechter Stolz!</p></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="3"><p>„Illuſion iſt Gnade.“—</p><lb/><p>Wie paradox! —</p><lb/><p>„Nur was <hirendition="#g">iſt</hi>, iſt Gott; alles was <hirendition="#g">geſchieht</hi>, Illuſion;<lb/>
und Illuſion iſt Gnade. Verliehenes.“</p><lb/><dateline><hirendition="#et">Sonntag, den 31. Auguſt 1823.</hi></dateline></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="3"><dateline><hirendition="#et">Sonntag, den 31. Auguſt 1823.</hi></dateline><lb/><p>Bei Leſung des Buchs: „Goethe in den Zeugniſſen der<lb/>
Mitlebenden.“ Wie ſchön iſt es, daß ſich in den Tagen um<lb/>
Goethe’s Geburtstag her eine ganze leſende Welt mit ihm be-<lb/>ſchäftigt; über ſeine Werke zu denken angeregt wird; ſie wohl<lb/>
nachlieſt; über ihn denkt und grübelt; von neuem erfährt,<lb/>
oder erinnert wird, was alles über ihn geſagt iſt: und wir ſo<lb/>
zu einer Gemüths- und Geiſtesſchau über uns ſelbſt veran-<lb/>
laßt ſind: eine Art vielfältiger Beichte, und Unterſuchung da-<lb/>
zu: und gewiß Antrieb neuer Liebe und verſtärkter Verehrung.<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[119/0127]
Geiſtbegabten zu den Gegenſtänden je folgen können, die der
Geiſt ſich auswählt, für wichtig erachtet, liebt oder haßt.
Dies Gebiet iſt den Unbegabten rein verſchloſſen; und ſie mei-
nen zu thun wie die Andern, aber ohne Dank.
Tugend muß Unſchuld ſein: ſonſt ſind wir ein Schlacht-
feld. Viele Leute wollen nur auf einem Schlachtfeld ruhen.
Dabei fällt mir ein, was Goethe (vor fünf und zwanzig Jah-
ren) in Karlsbad ſagte: „Beſſer das ſchlechteſte Theater, als
die ſchönſte Langeweile!“ So die Tugendprätendenten: Ge-
tümmel für’s erſte! Und ſchlechter Stolz!
„Illuſion iſt Gnade.“ —
Wie paradox! —
„Nur was iſt, iſt Gott; alles was geſchieht, Illuſion;
und Illuſion iſt Gnade. Verliehenes.“
Sonntag, den 31. Auguſt 1823.
Sonntag, den 31. Auguſt 1823.
Bei Leſung des Buchs: „Goethe in den Zeugniſſen der
Mitlebenden.“ Wie ſchön iſt es, daß ſich in den Tagen um
Goethe’s Geburtstag her eine ganze leſende Welt mit ihm be-
ſchäftigt; über ſeine Werke zu denken angeregt wird; ſie wohl
nachlieſt; über ihn denkt und grübelt; von neuem erfährt,
oder erinnert wird, was alles über ihn geſagt iſt: und wir ſo
zu einer Gemüths- und Geiſtesſchau über uns ſelbſt veran-
laßt ſind: eine Art vielfältiger Beichte, und Unterſuchung da-
zu: und gewiß Antrieb neuer Liebe und verſtärkter Verehrung.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/127>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.