wissen dergleichen! wie wenige Leser verstehen es! Wie kann man sich mit seinem Innern nicht abgeben!? --
S. 252. Sehr richtig, und lange nicht bekannt genug, daß es krankhaft ist, sich nicht mitzutheilen. Wo man ein- sieht, daß Mittheilung nicht hilft, ist Krankheit in den An- dern, und steckt uns an; und Unvermögen doch in jedem Fall in uns. Wer uns nicht Wahrheit erlaubt, ist daher im Unrecht; und der, welchem man Unwahrheit sagt, immer et- was gehaßt, wenigstens während dem. -- Wir sind ja in einem schwachen gehemmten Zustand wenn wir lügen müssen.
S. 256. bin ich nicht seiner Meinung über religiöse Ge- spräche. Ferner will er "Pracht" und "Fülle," wenn über Religion gesprochen wird. Man muß über alles, wovon die Rede ist, so gut als möglich sprechen: und eine wahrhaft gute Rede soll kein Schmuck sein irgend einer Sache; eine Rede ist eine Folge von Gedanken; eine Darstellung unserer selbst in einem gegebenen Fall; und sind wir frei in diesem, in die- ser Zeit, so wird sie schön sein und wahr. Was sind das für Umschweife, für Ausnahmen für die Religion, die er doch nur als einen Inbegriff und Ende aller Meditation und Rechen- schaft definirte! Es ist mehr, als wollte er die Redner kon- struiren, als sie; und denen ihre Themata anweisen. --
Mai, 1823.
wiſſen dergleichen! wie wenige Leſer verſtehen es! Wie kann man ſich mit ſeinem Innern nicht abgeben!? —
S. 252. Sehr richtig, und lange nicht bekannt genug, daß es krankhaft iſt, ſich nicht mitzutheilen. Wo man ein- ſieht, daß Mittheilung nicht hilft, iſt Krankheit in den An- dern, und ſteckt uns an; und Unvermögen doch in jedem Fall in uns. Wer uns nicht Wahrheit erlaubt, iſt daher im Unrecht; und der, welchem man Unwahrheit ſagt, immer et- was gehaßt, wenigſtens während dem. — Wir ſind ja in einem ſchwachen gehemmten Zuſtand wenn wir lügen müſſen.
S. 256. bin ich nicht ſeiner Meinung über religiöſe Ge- ſpräche. Ferner will er „Pracht“ und „Fülle,“ wenn über Religion geſprochen wird. Man muß über alles, wovon die Rede iſt, ſo gut als möglich ſprechen: und eine wahrhaft gute Rede ſoll kein Schmuck ſein irgend einer Sache; eine Rede iſt eine Folge von Gedanken; eine Darſtellung unſerer ſelbſt in einem gegebenen Fall; und ſind wir frei in dieſem, in die- ſer Zeit, ſo wird ſie ſchön ſein und wahr. Was ſind das für Umſchweife, für Ausnahmen für die Religion, die er doch nur als einen Inbegriff und Ende aller Meditation und Rechen- ſchaft definirte! Es iſt mehr, als wollte er die Redner kon- ſtruiren, als ſie; und denen ihre Themata anweiſen. —
Mai, 1823.
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wiſſen dergleichen! wie wenige Leſer verſtehen es! Wie kann
man ſich mit ſeinem Innern nicht abgeben!? —
S. 252. Sehr richtig, und lange nicht bekannt genug,
daß es krankhaft iſt, ſich nicht mitzutheilen. Wo man ein-
ſieht, daß Mittheilung nicht hilft, iſt Krankheit in den An-
dern, und ſteckt uns an; und Unvermögen doch in jedem
Fall in uns. Wer uns nicht Wahrheit erlaubt, iſt daher im
Unrecht; und der, welchem man Unwahrheit ſagt, immer et-
was gehaßt, wenigſtens während dem. — Wir ſind ja in
einem ſchwachen gehemmten Zuſtand wenn wir lügen müſſen.
S. 256. bin ich nicht ſeiner Meinung über religiöſe Ge-
ſpräche. Ferner will er „Pracht“ und „Fülle,“ wenn über
Religion geſprochen wird. Man muß über alles, wovon die
Rede iſt, ſo gut als möglich ſprechen: und eine wahrhaft gute
Rede ſoll kein Schmuck ſein irgend einer Sache; eine Rede
iſt eine Folge von Gedanken; eine Darſtellung unſerer ſelbſt
in einem gegebenen Fall; und ſind wir frei in dieſem, in die-
ſer Zeit, ſo wird ſie ſchön ſein und wahr. Was ſind das für
Umſchweife, für Ausnahmen für die Religion, die er doch nur
als einen Inbegriff und Ende aller Meditation und Rechen-
ſchaft definirte! Es iſt mehr, als wollte er die Redner kon-
ſtruiren, als ſie; und denen ihre Themata anweiſen. —
Mai, 1823.
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/109>, abgerufen am 23.11.2024.
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