wegungen zu sehn; und bei diesem ihrer Moral schmei- chelnden Schauspiele der gesunden menschlichen Organisation vergessen. Vergessenheit, die täglich in Anstalten des noth- wendigsten Heils und des Ergötzens anzutreffen ist.
An Alexander von der Marwitz, in Potsdam.
Dienstag Morgen im Bette, 10 Uhr, den 8. December 1812. Bei den angegriffensten Nerven. Von der Kälte, glaub' ich; darum warte ich sie auch noch im Bette ab.
-- Gestern Morgen war ich bei der W., weil sie vor- gestern Morgen bei mir war, ohne mich zu treffen. Sie führte mich in ihr Kabinet; nach einigem Redewechsel, und einer Be- stellung über eingeladene Gäste, nach welchem ich sah, daß sie mich nun nicht einladen würde, sagt' ich ihr in der größten Herzensmilde, mit dem hochblickendsten Geiste, ob sie gedenke T. zu sehen; worauf sie mir Ja antwortete; und worauf ich sie bat, sie möchte ihm nun die Bestellung machen, die Sie vergessen haben; -- von Ihnen jedoch erwähnt' ich hierbei nichts. -- Ich sah über diese Nichteinladung weg, wie über alle: und wie über die, welche mir schon aus diesem Hause zu Theil geworden sind. Ich sagte ihr bald, ich würde ihr meine Träume bringen und lesen: sie war beschämt, innig und dankbar; und frug mich, wie sie nur dergleichen bei mir ver- diene, mit wahrhaftester Bescheidenheit, Stocken, und innrer Bewegung: auch Ihnen hätte sie schon dasselbe gesagt. Ich bedeute ihr, wie sie bei mir stehen muß; auch nicht aus der Haut, und wir umarmten uns. Dann sagt' ich ihr, warum
wegungen zu ſehn; und bei dieſem ihrer Moral ſchmei- chelnden Schauſpiele der geſunden menſchlichen Organiſation vergeſſen. Vergeſſenheit, die täglich in Anſtalten des noth- wendigſten Heils und des Ergötzens anzutreffen iſt.
An Alexander von der Marwitz, in Potsdam.
Dienstag Morgen im Bette, 10 Uhr, den 8. December 1812. Bei den angegriffenſten Nerven. Von der Kälte, glaub’ ich; darum warte ich ſie auch noch im Bette ab.
— Geſtern Morgen war ich bei der W., weil ſie vor- geſtern Morgen bei mir war, ohne mich zu treffen. Sie führte mich in ihr Kabinet; nach einigem Redewechſel, und einer Be- ſtellung über eingeladene Gäſte, nach welchem ich ſah, daß ſie mich nun nicht einladen würde, ſagt’ ich ihr in der größten Herzensmilde, mit dem hochblickendſten Geiſte, ob ſie gedenke T. zu ſehen; worauf ſie mir Ja antwortete; und worauf ich ſie bat, ſie möchte ihm nun die Beſtellung machen, die Sie vergeſſen haben; — von Ihnen jedoch erwähnt’ ich hierbei nichts. — Ich ſah über dieſe Nichteinladung weg, wie über alle: und wie über die, welche mir ſchon aus dieſem Hauſe zu Theil geworden ſind. Ich ſagte ihr bald, ich würde ihr meine Träume bringen und leſen: ſie war beſchämt, innig und dankbar; und frug mich, wie ſie nur dergleichen bei mir ver- diene, mit wahrhafteſter Beſcheidenheit, Stocken, und innrer Bewegung: auch Ihnen hätte ſie ſchon daſſelbe geſagt. Ich bedeute ihr, wie ſie bei mir ſtehen muß; auch nicht aus der Haut, und wir umarmten uns. Dann ſagt’ ich ihr, warum
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[68/0076]
wegungen zu ſehn; und bei dieſem ihrer Moral ſchmei-
chelnden Schauſpiele der geſunden menſchlichen Organiſation
vergeſſen. Vergeſſenheit, die täglich in Anſtalten des noth-
wendigſten Heils und des Ergötzens anzutreffen iſt.
An Alexander von der Marwitz, in Potsdam.
Dienstag Morgen im Bette, 10 Uhr, den 8. December 1812. Bei
den angegriffenſten Nerven. Von der Kälte, glaub’ ich;
darum warte ich ſie auch noch im Bette ab.
— Geſtern Morgen war ich bei der W., weil ſie vor-
geſtern Morgen bei mir war, ohne mich zu treffen. Sie führte
mich in ihr Kabinet; nach einigem Redewechſel, und einer Be-
ſtellung über eingeladene Gäſte, nach welchem ich ſah, daß ſie
mich nun nicht einladen würde, ſagt’ ich ihr in der größten
Herzensmilde, mit dem hochblickendſten Geiſte, ob ſie gedenke
T. zu ſehen; worauf ſie mir Ja antwortete; und worauf ich
ſie bat, ſie möchte ihm nun die Beſtellung machen, die Sie
vergeſſen haben; — von Ihnen jedoch erwähnt’ ich hierbei
nichts. — Ich ſah über dieſe Nichteinladung weg, wie über
alle: und wie über die, welche mir ſchon aus dieſem Hauſe
zu Theil geworden ſind. Ich ſagte ihr bald, ich würde ihr
meine Träume bringen und leſen: ſie war beſchämt, innig und
dankbar; und frug mich, wie ſie nur dergleichen bei mir ver-
diene, mit wahrhafteſter Beſcheidenheit, Stocken, und innrer
Bewegung: auch Ihnen hätte ſie ſchon daſſelbe geſagt. Ich
bedeute ihr, wie ſie bei mir ſtehen muß; auch nicht aus der
Haut, und wir umarmten uns. Dann ſagt’ ich ihr, warum
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/76>, abgerufen am 09.11.2024.
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