stehe ich nun, lieber Brinckmann, Ihnen und Ihren Briefen, Ihrer jugendlichen Zärtlichkeit für alles Sonstige, gegenüber, und glaubte erst, ich würde mich schämen, und ich mußte aus Erkenntlichkeit und Zerknirschung doch wenigstens Ihnen sa- gen, wie es mit mir ist. Aber ich schäme mich nicht. Ich finde mich immer gut, wie ich bin: und bin dann schon ganz zufrieden, wenn ich nach einem Nachmirselbstsehen finde, daß ich richtig sah, und mir über das Geschehene Rechenschaft ge- ben kann. Ich habe nicht versprochen, wie ich werden will?! Und hätte ich's versprochen, so wäre es eine Narr- heit gewesen; von der ich, jeden frei ließe. Nach diesem Bericht über mich (von dem Sie genau wissen werden, wie wahr, und wie nicht wahr er ist; ich verstelle mich nicht, aber es ist schwer, die Wahrheit zu sagen:), wird es Ihnen nicht auffallen, wenn ich Ihnen sage, daß Berlin, nach sechs Jah- ren Abwesenheit, mich nicht enchantirt, (anstatt dieses Wortes hätte ich können "bezaubert", oder "entzückt", oder "schmei- chelt", oder "wohlthut" sagen; ich sagte aber "enchantirt", altmodischer Art). Der Tod hat unter unsern Freunden, die Sie mir so emaillirt in der Erinnrung wie unser ganzes Le- ben darstellen, gewüthet, vom Krieg unterstützt: an jeder Ecke in unserm Viertel, wo sonst Unsrige wohnten, sitzen Fremde. Es sind Grabstätten. Die ganze Konstella- tion von Schönheit, Grazie, Koketterie, Neigung, Liebschaft, Witz, Eleganz, Kordialität, Drang die Ideen zu entwik- keln, redlichem Ernst, unbefangenem Aufsuchen und Zu- sammentreffen, launigem Scherz, ist zerstiebt. Alle Rez- de-Chaussee's sind Laden, alle Zusammenkünfte Dines oder
II. 39
ſtehe ich nun, lieber Brinckmann, Ihnen und Ihren Briefen, Ihrer jugendlichen Zärtlichkeit für alles Sonſtige, gegenüber, und glaubte erſt, ich würde mich ſchämen, und ich mußte aus Erkenntlichkeit und Zerknirſchung doch wenigſtens Ihnen ſa- gen, wie es mit mir iſt. Aber ich ſchäme mich nicht. Ich finde mich immer gut, wie ich bin: und bin dann ſchon ganz zufrieden, wenn ich nach einem Nachmirſelbſtſehen finde, daß ich richtig ſah, und mir über das Geſchehene Rechenſchaft ge- ben kann. Ich habe nicht verſprochen, wie ich werden will?! Und hätte ich’s verſprochen, ſo wäre es eine Narr- heit geweſen; von der ich, jeden frei ließe. Nach dieſem Bericht über mich (von dem Sie genau wiſſen werden, wie wahr, und wie nicht wahr er iſt; ich verſtelle mich nicht, aber es iſt ſchwer, die Wahrheit zu ſagen:), wird es Ihnen nicht auffallen, wenn ich Ihnen ſage, daß Berlin, nach ſechs Jah- ren Abweſenheit, mich nicht enchantirt, (anſtatt dieſes Wortes hätte ich können „bezaubert“, oder „entzückt“, oder „ſchmei- chelt“, oder „wohlthut“ ſagen; ich ſagte aber „enchantirt“, altmodiſcher Art). Der Tod hat unter unſern Freunden, die Sie mir ſo emaillirt in der Erinnrung wie unſer ganzes Le- ben darſtellen, gewüthet, vom Krieg unterſtützt: an jeder Ecke in unſerm Viertel, wo ſonſt Unſrige wohnten, ſitzen Fremde. Es ſind Grabſtätten. Die ganze Konſtella- tion von Schönheit, Grazie, Koketterie, Neigung, Liebſchaft, Witz, Eleganz, Kordialität, Drang die Ideen zu entwik- keln, redlichem Ernſt, unbefangenem Aufſuchen und Zu- ſammentreffen, launigem Scherz, iſt zerſtiebt. Alle Rez- de-Chauſſée’s ſind Laden, alle Zuſammenkünfte Dinés oder
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ſtehe ich nun, lieber Brinckmann, Ihnen und Ihren Briefen,
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Erkenntlichkeit und Zerknirſchung doch wenigſtens Ihnen ſa-
gen, wie es mit mir iſt. Aber ich ſchäme mich nicht. Ich
finde mich immer gut, wie ich bin: und bin dann ſchon ganz
zufrieden, wenn ich nach einem Nachmirſelbſtſehen finde, daß
ich richtig ſah, und mir über das Geſchehene Rechenſchaft ge-
ben kann. Ich habe nicht verſprochen, wie ich werden
will?! Und hätte ich’s verſprochen, ſo wäre es eine Narr-
heit geweſen; von der ich, jeden frei ließe. Nach dieſem
Bericht über mich (von dem Sie genau wiſſen werden, wie
wahr, und wie nicht wahr er iſt; ich verſtelle mich nicht, aber
es iſt ſchwer, die Wahrheit zu ſagen:), wird es Ihnen nicht
auffallen, wenn ich Ihnen ſage, daß Berlin, nach ſechs Jah-
ren Abweſenheit, mich nicht enchantirt, (anſtatt dieſes Wortes
hätte ich können „bezaubert“, oder „entzückt“, oder „ſchmei-
chelt“, oder „wohlthut“ ſagen; ich ſagte aber „enchantirt“,
altmodiſcher Art). Der Tod hat unter unſern Freunden, die
Sie mir ſo emaillirt in der Erinnrung wie unſer ganzes Le-
ben darſtellen, gewüthet, vom Krieg unterſtützt: an jeder
Ecke in unſerm Viertel, wo ſonſt Unſrige wohnten, ſitzen
Fremde. Es ſind Grabſtätten. Die ganze Konſtella-
tion von Schönheit, Grazie, Koketterie, Neigung, Liebſchaft,
Witz, Eleganz, Kordialität, Drang die Ideen zu entwik-
keln, redlichem Ernſt, unbefangenem Aufſuchen und Zu-
ſammentreffen, launigem Scherz, iſt zerſtiebt. Alle Rez-
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 609. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/617>, abgerufen am 23.11.2024.
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