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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834.

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groß, belebend und lebendig: alle Zeiten, Religionen, Ansich-
ten, Extasen und Zustände begreifend und darstellend und er-
klärend. Diejenigen aber, welche mehr Geschichte lesen, als
selbst leben, wollen nur immer eine gelesene aufführen oder
aufführen lassen: daher der seichte Enthusiasmus, die leeren
Projekte, und dabei das Gewaltsame; weil der große Lebens-
gang, einem Gewächse gleich, nicht herabgehalten noch erd-
wärts gebogen werden kann, sondern nach eignem Himmels-
ausspruch emporwächst, und aller Anstrengung, es anders zu
gebrauchen, mit größter Kraft widersteht. Römische Geschichte
aufführen wollen, mit Intermezzo's aus Ludwigs des Vier-
zehnten Leben, half Napoleon entthronen. Es wird gewiß
bald dahin kommen, daß Schriftsteller der Geschichte, die bloß
durch Geschichte in's Leben blicken, von denen, welche die Ge-
schichte durch das gegenwärtige Leben auffassen und darstel-
len, scharf und klassenweise werden unterschieden sein. Dann
werden die leider doch noch zu geistreichen Faselbücher nicht
gelesen werden können, und bald nicht mehr geschrieben.

Sollten Männer, wie * und **, nicht selbst wissen, wo
der dunkle Punkt in ihren neusten Schriften ist, über welchen
sie wegsetzen, und willkürlich vorauszusetzen anfangen? Sie
machen einen selbst schwanken zwischen dem Zweifel an der
Schärfe ihrer Einsicht, oder dem an ihrer Redlichkeit: man
weiß nicht, welche von beiden man beleidigen soll. --




Bonald sagt in seinen pensees diverses: "Les uns sa-
vent ce qu'ils sont, les autres le sentent. Or on oublie ce

groß, belebend und lebendig: alle Zeiten, Religionen, Anſich-
ten, Extaſen und Zuſtände begreifend und darſtellend und er-
klärend. Diejenigen aber, welche mehr Geſchichte leſen, als
ſelbſt leben, wollen nur immer eine geleſene aufführen oder
aufführen laſſen: daher der ſeichte Enthuſiasmus, die leeren
Projekte, und dabei das Gewaltſame; weil der große Lebens-
gang, einem Gewächſe gleich, nicht herabgehalten noch erd-
wärts gebogen werden kann, ſondern nach eignem Himmels-
ausſpruch emporwächſt, und aller Anſtrengung, es anders zu
gebrauchen, mit größter Kraft widerſteht. Römiſche Geſchichte
aufführen wollen, mit Intermezzo’s aus Ludwigs des Vier-
zehnten Leben, half Napoleon entthronen. Es wird gewiß
bald dahin kommen, daß Schriftſteller der Geſchichte, die bloß
durch Geſchichte in’s Leben blicken, von denen, welche die Ge-
ſchichte durch das gegenwärtige Leben auffaſſen und darſtel-
len, ſcharf und klaſſenweiſe werden unterſchieden ſein. Dann
werden die leider doch noch zu geiſtreichen Faſelbücher nicht
geleſen werden können, und bald nicht mehr geſchrieben.

Sollten Männer, wie * und **, nicht ſelbſt wiſſen, wo
der dunkle Punkt in ihren neuſten Schriften iſt, über welchen
ſie wegſetzen, und willkürlich vorauszuſetzen anfangen? Sie
machen einen ſelbſt ſchwanken zwiſchen dem Zweifel an der
Schärfe ihrer Einſicht, oder dem an ihrer Redlichkeit: man
weiß nicht, welche von beiden man beleidigen ſoll. —




Bonald ſagt in ſeinen pensées diverses: „Les uns sa-
vent ce qu’ils sont, les autres le sentent. Or on oublie ce

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[600/0608] groß, belebend und lebendig: alle Zeiten, Religionen, Anſich- ten, Extaſen und Zuſtände begreifend und darſtellend und er- klärend. Diejenigen aber, welche mehr Geſchichte leſen, als ſelbſt leben, wollen nur immer eine geleſene aufführen oder aufführen laſſen: daher der ſeichte Enthuſiasmus, die leeren Projekte, und dabei das Gewaltſame; weil der große Lebens- gang, einem Gewächſe gleich, nicht herabgehalten noch erd- wärts gebogen werden kann, ſondern nach eignem Himmels- ausſpruch emporwächſt, und aller Anſtrengung, es anders zu gebrauchen, mit größter Kraft widerſteht. Römiſche Geſchichte aufführen wollen, mit Intermezzo’s aus Ludwigs des Vier- zehnten Leben, half Napoleon entthronen. Es wird gewiß bald dahin kommen, daß Schriftſteller der Geſchichte, die bloß durch Geſchichte in’s Leben blicken, von denen, welche die Ge- ſchichte durch das gegenwärtige Leben auffaſſen und darſtel- len, ſcharf und klaſſenweiſe werden unterſchieden ſein. Dann werden die leider doch noch zu geiſtreichen Faſelbücher nicht geleſen werden können, und bald nicht mehr geſchrieben. Sollten Männer, wie * und **, nicht ſelbſt wiſſen, wo der dunkle Punkt in ihren neuſten Schriften iſt, über welchen ſie wegſetzen, und willkürlich vorauszuſetzen anfangen? Sie machen einen ſelbſt ſchwanken zwiſchen dem Zweifel an der Schärfe ihrer Einſicht, oder dem an ihrer Redlichkeit: man weiß nicht, welche von beiden man beleidigen ſoll. — Berlin, den 5. November 1819. Bonald ſagt in ſeinen pensées diverses: „Les uns sa- vent ce qu’ils sont, les autres le sentent. Or on oublie ce

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 600. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/608>, abgerufen am 09.11.2024.