bedürfniß allein, ihn nicht annehmen. Was in der Welt -- die Bibel nicht! -- kann mich zwingen, neben Gott, für dieses Dasein eine Sünde anzunehmen? Mir ist folgendes natürlicher und einleuchtender. Wie finden wir uns? frag' ich. Mit einem persönlichen Bewußtsein; erstlich begränzt in dieser Persönlichkeit selbst, dann in den Bewegungen unsres Geistes, so sehr dieser auch das Weitreichendste in uns ist; die Persönlichkeit ist die schärfste Bedingung und der für uns zu erreichende Grund unsres Bewußtseins. Durch sie wird allein Sittlichkeit möglich: unser Höchstes jetzt; einzig siche- res, einzig mögliches Handeln, mögliches Schaffen. Nur in Persönlichkeit können wir Glückseligkeit und Unglückseligkeit finden. Daß uns der größte, also auch gütigste Geist diese Per- sönlichkeit nur unter so harten Bedingungen verleihen mochte oder konnte -- hier gleichviel! -- ist sein Geheimniß; die Ergebung in dieses Geheimniß, meine Religion, meine De- muth, meine Weisheit, meine Ruhe! Alle andere Voraus- setzungen sind mir kindisch und willkürlich. Mein Geist kann immer höher steigen, mächtiger, schauender werden; und ist Gott mit allem Eins, so ist's wie mit uns selbst; auch zu uns gehört unser ganzer Leib und die Intelligenzen aller un- serer Organe, und es ist doch eine vornehmste da: der Kopf weiß vom Fuß; der nicht vom Kopf! Diese ganze Voraus- setzung hier nur ganz beiläufig, nur zum Beweise, daß sie nicht passe. Denke dir nun, wie mir ein Gott, oder wie mir Menschen vorkommen, die Opfer fordern; das Unsittlichste in der Welt; wie das Sittlichste, diese Forderung an sich selber zu machen, und die Opfer zu leisten. Daß überhaupt
bedürfniß allein, ihn nicht annehmen. Was in der Welt — die Bibel nicht! — kann mich zwingen, neben Gott, für dieſes Daſein eine Sünde anzunehmen? Mir iſt folgendes natürlicher und einleuchtender. Wie finden wir uns? frag’ ich. Mit einem perſönlichen Bewußtſein; erſtlich begränzt in dieſer Perſönlichkeit ſelbſt, dann in den Bewegungen unſres Geiſtes, ſo ſehr dieſer auch das Weitreichendſte in uns iſt; die Perſönlichkeit iſt die ſchärfſte Bedingung und der für uns zu erreichende Grund unſres Bewußtſeins. Durch ſie wird allein Sittlichkeit möglich: unſer Höchſtes jetzt; einzig ſiche- res, einzig mögliches Handeln, mögliches Schaffen. Nur in Perſönlichkeit können wir Glückſeligkeit und Unglückſeligkeit finden. Daß uns der größte, alſo auch gütigſte Geiſt dieſe Per- ſönlichkeit nur unter ſo harten Bedingungen verleihen mochte oder konnte — hier gleichviel! — iſt ſein Geheimniß; die Ergebung in dieſes Geheimniß, meine Religion, meine De- muth, meine Weisheit, meine Ruhe! Alle andere Voraus- ſetzungen ſind mir kindiſch und willkürlich. Mein Geiſt kann immer höher ſteigen, mächtiger, ſchauender werden; und iſt Gott mit allem Eins, ſo iſt’s wie mit uns ſelbſt; auch zu uns gehört unſer ganzer Leib und die Intelligenzen aller un- ſerer Organe, und es iſt doch eine vornehmſte da: der Kopf weiß vom Fuß; der nicht vom Kopf! Dieſe ganze Voraus- ſetzung hier nur ganz beiläufig, nur zum Beweiſe, daß ſie nicht paſſe. Denke dir nun, wie mir ein Gott, oder wie mir Menſchen vorkommen, die Opfer fordern; das Unſittlichſte in der Welt; wie das Sittlichſte, dieſe Forderung an ſich ſelber zu machen, und die Opfer zu leiſten. Daß überhaupt
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bedürfniß allein, ihn nicht annehmen. Was in der Welt —
die Bibel nicht! — kann mich zwingen, neben Gott, für
dieſes Daſein eine Sünde anzunehmen? Mir iſt folgendes
natürlicher und einleuchtender. Wie finden wir uns? frag’
ich. Mit einem perſönlichen Bewußtſein; erſtlich begränzt in
dieſer Perſönlichkeit ſelbſt, dann in den Bewegungen unſres
Geiſtes, ſo ſehr dieſer auch das Weitreichendſte in uns iſt;
die Perſönlichkeit iſt die ſchärfſte Bedingung und der für uns
zu erreichende Grund unſres Bewußtſeins. Durch ſie wird
allein Sittlichkeit möglich: unſer Höchſtes jetzt; einzig ſiche-
res, einzig mögliches Handeln, mögliches Schaffen. Nur in
Perſönlichkeit können wir Glückſeligkeit und Unglückſeligkeit
finden. Daß uns der größte, alſo auch gütigſte Geiſt dieſe Per-
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oder konnte — hier gleichviel! — iſt ſein Geheimniß; die
Ergebung in dieſes Geheimniß, meine Religion, meine De-
muth, meine Weisheit, meine Ruhe! Alle andere Voraus-
ſetzungen ſind mir kindiſch und willkürlich. Mein Geiſt kann
immer höher ſteigen, mächtiger, ſchauender werden; und iſt
Gott mit allem Eins, ſo iſt’s wie mit uns ſelbſt; auch zu
uns gehört unſer ganzer Leib und die Intelligenzen aller un-
ſerer Organe, und es iſt doch eine vornehmſte da: der Kopf
weiß vom Fuß; der nicht vom Kopf! Dieſe ganze Voraus-
ſetzung hier nur ganz beiläufig, nur zum Beweiſe, daß ſie
nicht paſſe. Denke dir nun, wie mir ein Gott, oder wie mir
Menſchen vorkommen, die Opfer fordern; das Unſittlichſte in
der Welt; wie das Sittlichſte, dieſe Forderung an ſich ſelber
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 556. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/564>, abgerufen am 22.11.2024.
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