mich gleich auf Litteratur, da unsere Genüsse leider fast alle in "Schwarz auf Weiß" verwandelt sind! Kennen Sie: Re- cueil de lettres sur la peinture, la sculpture et l'architecture, ecrites par les plus grands maeitres du quinzieme jusqu'au dix- huitieme siecle, traduit par L. J. Jay? Die Briefe des Michel Angelo, des Annibal Caracci, als der Leute damaliger Zeit, versüßen mir meine jetzigen Tage. Ihre Plackereien sind in die Ferne gerückt: ihr Bestreben, ihre Thätigkeit, ihre Wünsche, ihr Herz und Geist, stehen klarer da; für mich ganz beson- ders, die aus den Briefen der Menschen so unendlich viel von ihnen kennt. Von solcher Briefsammlung wird mir die Histo- rie und eine ganze Zeit klarer, als durch berühmte Geschicht- schreiber. Ich bin dem Herrn Jay sehr verbunden: und könnte sehr lang mich auslassen, über Geschichtschreibung, die ich meist schlecht finde. Haben Sie Bignons kleine Schrift gelesen, über Baierns Prätension an Baden? Weltbürgerliche Deutsche sind ihm sehr verbunden; rühmen ihn weit und breit. Haben Sie Bailleul über Frau von Stael's letztes Werk gelesen? Ich wollte, sie lebte noch, und röche Einmal diesen Weihrauch. Man räumt dieser Frau viel zu viel ein, was sie nicht hatte. Man borgt ihr einen Geist, eine Penetration, die man ohne Gründlichkeit gar nicht haben kann: sie hat einen, der nur in Abwesenheit der Gründlichkeit so zu flimmern vermag. Es sind viel zu wichtige Thema's an diesen Geist heran geschwom- men, auf der Fahrt ihres Lebens, die er von selbst sich im gro- ßen Ozean nicht ersehen hätte, aber nach Geistes Art sich doch aneignete zum Verarbeiten: denn selbst Eitelkeit ist ein sehr geistiges Erzeugniß. Es freut mich aber, daß Geistigkeit über-
mich gleich auf Litteratur, da unſere Genüſſe leider faſt alle in „Schwarz auf Weiß“ verwandelt ſind! Kennen Sie: Re- cueil de lettres sur la peinture, la sculpture et l’architecture, écrites par les plus grands maîtres du quinzième jusqu’au dix- huitième siècle, traduit par L. J. Jay? Die Briefe des Michel Angelo, des Annibal Caracci, als der Leute damaliger Zeit, verſüßen mir meine jetzigen Tage. Ihre Plackereien ſind in die Ferne gerückt: ihr Beſtreben, ihre Thätigkeit, ihre Wünſche, ihr Herz und Geiſt, ſtehen klarer da; für mich ganz beſon- ders, die aus den Briefen der Menſchen ſo unendlich viel von ihnen kennt. Von ſolcher Briefſammlung wird mir die Hiſto- rie und eine ganze Zeit klarer, als durch berühmte Geſchicht- ſchreiber. Ich bin dem Herrn Jay ſehr verbunden: und könnte ſehr lang mich auslaſſen, über Geſchichtſchreibung, die ich meiſt ſchlecht finde. Haben Sie Bignons kleine Schrift geleſen, über Baierns Prätenſion an Baden? Weltbürgerliche Deutſche ſind ihm ſehr verbunden; rühmen ihn weit und breit. Haben Sie Bailleul über Frau von Staël’s letztes Werk geleſen? Ich wollte, ſie lebte noch, und röche Einmal dieſen Weihrauch. Man räumt dieſer Frau viel zu viel ein, was ſie nicht hatte. Man borgt ihr einen Geiſt, eine Penetration, die man ohne Gründlichkeit gar nicht haben kann: ſie hat einen, der nur in Abweſenheit der Gründlichkeit ſo zu flimmern vermag. Es ſind viel zu wichtige Thema’s an dieſen Geiſt heran geſchwom- men, auf der Fahrt ihres Lebens, die er von ſelbſt ſich im gro- ßen Ozean nicht erſehen hätte, aber nach Geiſtes Art ſich doch aneignete zum Verarbeiten: denn ſelbſt Eitelkeit iſt ein ſehr geiſtiges Erzeugniß. Es freut mich aber, daß Geiſtigkeit über-
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mich gleich auf Litteratur, da unſere Genüſſe leider faſt alle
in „Schwarz auf Weiß“ verwandelt ſind! Kennen Sie: Re-
cueil de lettres sur la peinture, la sculpture et l’architecture,
écrites par les plus grands maîtres du quinzième jusqu’au dix-
huitième siècle, traduit par L. J. Jay? Die Briefe des Michel
Angelo, des Annibal Caracci, als der Leute damaliger Zeit,
verſüßen mir meine jetzigen Tage. Ihre Plackereien ſind in
die Ferne gerückt: ihr Beſtreben, ihre Thätigkeit, ihre Wünſche,
ihr Herz und Geiſt, ſtehen klarer da; für mich ganz beſon-
ders, die aus den Briefen der Menſchen ſo unendlich viel von
ihnen kennt. Von ſolcher Briefſammlung wird mir die Hiſto-
rie und eine ganze Zeit klarer, als durch berühmte Geſchicht-
ſchreiber. Ich bin dem Herrn Jay ſehr verbunden: und könnte
ſehr lang mich auslaſſen, über Geſchichtſchreibung, die ich meiſt
ſchlecht finde. Haben Sie Bignons kleine Schrift geleſen, über
Baierns Prätenſion an Baden? Weltbürgerliche Deutſche ſind
ihm ſehr verbunden; rühmen ihn weit und breit. Haben Sie
Bailleul über Frau von Staël’s letztes Werk geleſen? Ich
wollte, ſie lebte noch, und röche Einmal dieſen Weihrauch.
Man räumt dieſer Frau viel zu viel ein, was ſie nicht hatte.
Man borgt ihr einen Geiſt, eine Penetration, die man ohne
Gründlichkeit gar nicht haben kann: ſie hat einen, der nur
in Abweſenheit der Gründlichkeit ſo zu flimmern vermag. Es
ſind viel zu wichtige Thema’s an dieſen Geiſt heran geſchwom-
men, auf der Fahrt ihres Lebens, die er von ſelbſt ſich im gro-
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 548. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/556>, abgerufen am 22.11.2024.
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