erspähe, was erfrage ich auch alles, wie ist die Welt! Welche Schicksale. Welche stille, ungerühmte Größe, Religion im höchsten Sinn, lebt in Weibern, die ich in grasbewachsenen, vergessenen Höfen fand. -- Wie ist alles anders, als es von den berühmtest Klügsten ausgeschrieen, gedruckt, gelesen und geglaubt wird!!! Gott weiß nur die Bewandtnisse, die inneren Herzensbeweggründe; und manche von ihm herabgelassene, wahrhafte, unbetrügliche, einfache gute Menschen. Mich hat er auch dazu erwählt. Der furchtbringendste Frevel wär' es, wenn es nicht wahr wäre, und ich es sagte. Aber alle Tage werde ich frömmer und innerlicher; und reinige mich mehr. Und was sah ich für Wolkenspiele! Wie find' ich durch ein Wunder Gottes, einen neuen Sinn, neue Sinne möchte ich sagen, das Feld in der leibhaftigen Stadt?! Wie sah sie jetzt eben erst aus! Ich komme von der Spandauerstraße über die lange Brücke durch das Schloß über den Opernplatz. So klingts nach nichts; wie war's aber, wie sah's aus? Wie war ich? Was hatte ich besorgt? Welche Herzensbewegungen gehabt? -- In welchen Stimmungen bin ich mitten in Ber- lin, in der Stadt, in der gleichgültigen Frevelstadt, wie jede ist. Wie dankbar, wie hoffnungsreich für's innere Leben, und alle Existenz dadurch: dabei las ich Athalie und Esther von Racine; mit ganz anderem Sinn, mit der größten Er- hebung! O! könnte man seine Seele seinen Freunden zum Genuß und Gebrauch schicken! Könnt' ich Sie froh machen! Manche ungewohnte Angst und Sorge, ich weiß es, schleicht um Ihr Herz. Ach! daß ein jeder seines leiden muß; und Liebe, die so viel ist, und hilft, so wenig helfen kann! Adieu!
erſpähe, was erfrage ich auch alles, wie iſt die Welt! Welche Schickſale. Welche ſtille, ungerühmte Größe, Religion im höchſten Sinn, lebt in Weibern, die ich in grasbewachſenen, vergeſſenen Höfen fand. — Wie iſt alles anders, als es von den berühmteſt Klügſten ausgeſchrieen, gedruckt, geleſen und geglaubt wird!!! Gott weiß nur die Bewandtniſſe, die inneren Herzensbeweggründe; und manche von ihm herabgelaſſene, wahrhafte, unbetrügliche, einfache gute Menſchen. Mich hat er auch dazu erwählt. Der furchtbringendſte Frevel wär’ es, wenn es nicht wahr wäre, und ich es ſagte. Aber alle Tage werde ich frömmer und innerlicher; und reinige mich mehr. Und was ſah ich für Wolkenſpiele! Wie find’ ich durch ein Wunder Gottes, einen neuen Sinn, neue Sinne möchte ich ſagen, das Feld in der leibhaftigen Stadt?! Wie ſah ſie jetzt eben erſt aus! Ich komme von der Spandauerſtraße über die lange Brücke durch das Schloß über den Opernplatz. So klingts nach nichts; wie war’s aber, wie ſah’s aus? Wie war ich? Was hatte ich beſorgt? Welche Herzensbewegungen gehabt? — In welchen Stimmungen bin ich mitten in Ber- lin, in der Stadt, in der gleichgültigen Frevelſtadt, wie jede iſt. Wie dankbar, wie hoffnungsreich für’s innere Leben, und alle Exiſtenz dadurch: dabei las ich Athalie und Eſther von Racine; mit ganz anderem Sinn, mit der größten Er- hebung! O! könnte man ſeine Seele ſeinen Freunden zum Genuß und Gebrauch ſchicken! Könnt’ ich Sie froh machen! Manche ungewohnte Angſt und Sorge, ich weiß es, ſchleicht um Ihr Herz. Ach! daß ein jeder ſeines leiden muß; und Liebe, die ſo viel iſt, und hilft, ſo wenig helfen kann! Adieu!
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erſpähe, was erfrage ich auch alles, wie iſt die Welt! Welche
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vergeſſenen Höfen fand. — Wie iſt alles anders, als es von
den berühmteſt Klügſten ausgeſchrieen, gedruckt, geleſen und
geglaubt wird!!! Gott weiß nur die Bewandtniſſe, die inneren
Herzensbeweggründe; und manche von ihm herabgelaſſene,
wahrhafte, unbetrügliche, einfache gute Menſchen. Mich hat
er auch dazu erwählt. Der furchtbringendſte Frevel wär’ es,
wenn es nicht wahr wäre, und ich es ſagte. Aber alle Tage
werde ich frömmer und innerlicher; und reinige mich mehr.
Und was ſah ich für Wolkenſpiele! Wie find’ ich durch ein
Wunder Gottes, einen neuen Sinn, neue Sinne möchte ich
ſagen, das Feld in der leibhaftigen Stadt?! Wie ſah ſie jetzt
eben erſt aus! Ich komme von der Spandauerſtraße über die
lange Brücke durch das Schloß über den Opernplatz. So
klingts nach nichts; wie war’s aber, wie ſah’s aus? Wie
war ich? Was hatte ich beſorgt? Welche Herzensbewegungen
gehabt? — In welchen Stimmungen bin ich mitten in Ber-
lin, in der Stadt, in der gleichgültigen Frevelſtadt, wie jede
iſt. Wie dankbar, wie hoffnungsreich für’s innere Leben,
und alle Exiſtenz dadurch: dabei las ich Athalie und Eſther
von Racine; mit ganz anderem Sinn, mit der größten Er-
hebung! O! könnte man ſeine Seele ſeinen Freunden zum
Genuß und Gebrauch ſchicken! Könnt’ ich Sie froh machen!
Manche ungewohnte Angſt und Sorge, ich weiß es, ſchleicht
um Ihr Herz. Ach! daß ein jeder ſeines leiden muß; und
Liebe, die ſo viel iſt, und hilft, ſo wenig helfen kann! Adieu!
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/55>, abgerufen am 21.11.2024.
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