Kühles kribliches Wetter, wo die Sonne durch- brechen will.
Gestern, lieb Röschen, als ich gegen 2 Uhr zu Frau von Schlegel gehen wollte, brachte mir auf der Treppe ihr Bedien- ter deinen Brief: der erste, den ich erhielt: ich ängstigte mich aber doch nicht, ich dachte gleich, er müsse in Karlsruhe lie- gen: ich will auch nun gleich jetzt an den Hrn. Wagner schrei- ben, daß er ihn mir schicke. Es thut mir in der Seele weh, daß Karl gleich wieder krank ward! -- eine Kalamität, der nur mit anderm Ungemach abzuhelfen ist, zu welchem sogar noch ein großer Entschluß zu fassen und Anstalten -- das Schlechteste auf der Erde -- zu machen sind. Du hast aber Recht, meine theure Schwester, in dem Vorsatz, daß wir uns alles sagen und besonders klagen wollen: dieses soulagement und dieser Trost soll uns nicht entgehen; darum betrügt der Menschenwitz mit seiner Schreibekunst das Schicksal, welches Freundestrennung erfand! Dein Ungemach mit dem Hause geht mir auch sehr zu Herzen (laß dir dies aber nicht leid sein!); dies verstehe ich aus dem Grunde, was solch Umziehen bedeutet, und in sich faßt!!! Aber ich weiß auch, und du wirst sehen, es ereignen sich auch unvorherzusehende Fügungen, die dir wieder etwas in einer andern Art Besseres und Be- quemeres schaffen. Ich hatte ja diesen Sommer nur drei Mo- nat vor mir, die ich immer auf den Landstraßen zubringen mußte, als mir urplötzlich, und wider jede Erwartung, auf-
An Roſe, im Haag.
Frankfurt a. M., den 21. Oktober 1817.
Kühles kribliches Wetter, wo die Sonne durch- brechen will.
Geſtern, lieb Röschen, als ich gegen 2 Uhr zu Frau von Schlegel gehen wollte, brachte mir auf der Treppe ihr Bedien- ter deinen Brief: der erſte, den ich erhielt: ich ängſtigte mich aber doch nicht, ich dachte gleich, er müſſe in Karlsruhe lie- gen: ich will auch nun gleich jetzt an den Hrn. Wagner ſchrei- ben, daß er ihn mir ſchicke. Es thut mir in der Seele weh, daß Karl gleich wieder krank ward! — eine Kalamität, der nur mit anderm Ungemach abzuhelfen iſt, zu welchem ſogar noch ein großer Entſchluß zu faſſen und Anſtalten — das Schlechteſte auf der Erde — zu machen ſind. Du haſt aber Recht, meine theure Schweſter, in dem Vorſatz, daß wir uns alles ſagen und beſonders klagen wollen: dieſes soulagement und dieſer Troſt ſoll uns nicht entgehen; darum betrügt der Menſchenwitz mit ſeiner Schreibekunſt das Schickſal, welches Freundestrennung erfand! Dein Ungemach mit dem Hauſe geht mir auch ſehr zu Herzen (laß dir dies aber nicht leid ſein!); dies verſtehe ich aus dem Grunde, was ſolch Umziehen bedeutet, und in ſich faßt!!! Aber ich weiß auch, und du wirſt ſehen, es ereignen ſich auch unvorherzuſehende Fügungen, die dir wieder etwas in einer andern Art Beſſeres und Be- quemeres ſchaffen. Ich hatte ja dieſen Sommer nur drei Mo- nat vor mir, die ich immer auf den Landſtraßen zubringen mußte, als mir urplötzlich, und wider jede Erwartung, auf-
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An Roſe, im Haag.
Frankfurt a. M., den 21. Oktober 1817.
Kühles kribliches Wetter, wo die Sonne durch-
brechen will.
Geſtern, lieb Röschen, als ich gegen 2 Uhr zu Frau von
Schlegel gehen wollte, brachte mir auf der Treppe ihr Bedien-
ter deinen Brief: der erſte, den ich erhielt: ich ängſtigte mich
aber doch nicht, ich dachte gleich, er müſſe in Karlsruhe lie-
gen: ich will auch nun gleich jetzt an den Hrn. Wagner ſchrei-
ben, daß er ihn mir ſchicke. Es thut mir in der Seele weh,
daß Karl gleich wieder krank ward! — eine Kalamität, der
nur mit anderm Ungemach abzuhelfen iſt, zu welchem ſogar
noch ein großer Entſchluß zu faſſen und Anſtalten — das
Schlechteſte auf der Erde — zu machen ſind. Du haſt aber
Recht, meine theure Schweſter, in dem Vorſatz, daß wir uns
alles ſagen und beſonders klagen wollen: dieſes soulagement
und dieſer Troſt ſoll uns nicht entgehen; darum betrügt der
Menſchenwitz mit ſeiner Schreibekunſt das Schickſal, welches
Freundestrennung erfand! Dein Ungemach mit dem Hauſe
geht mir auch ſehr zu Herzen (laß dir dies aber nicht leid
ſein!); dies verſtehe ich aus dem Grunde, was ſolch Umziehen
bedeutet, und in ſich faßt!!! Aber ich weiß auch, und du
wirſt ſehen, es ereignen ſich auch unvorherzuſehende Fügungen,
die dir wieder etwas in einer andern Art Beſſeres und Be-
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nat vor mir, die ich immer auf den Landſtraßen zubringen
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 484. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/492>, abgerufen am 25.11.2024.
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