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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834.

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daß ich J. so unbekümmert zu dir reisen ließ, ohne Frage,
Bestellung, Liebes, und Lebenszeichen. Ich beneidete ihn sehr!
Will dir alle Tage schreiben, beschäftige mich in meiner Seele
immerweg mit dir; aber man ist getrennt: und das ist nicht
mehr als halber Tod. Den Trost hat man nur, daß es mög-
lich bleibt, sich zu sehen und anzufrischen; daß man weiß,
daß man noch in demselben Kreis von Leid und Freud' um-
fangen, mit den Füßen auf demselben Erdenrund steht, noch
von derselben Luft haben muß, um zu leben. Aber die Mit-
theilung stirbt nach und nach aus. Wie sollte man auch ganze
Lebenswege zu Papier bringen, wann sich die Kreise desselben
verändern, bereichern, verarmen, und man alles darin beschrei-
ben müßte: dies allein kostete eine Lebenszeit; und auch die
Korrespondenz wächst alle Tage, und ändert, wie man selbst
den Wohnort und Bekannte ändern muß. Je n'y suffis plus!
Meine Nerven haben solche Wendung genommen, von gro-
ßen Krankheiten, deren Konvalescenz ich nie abwarten konnte,
undenklich reizbar zu sein, die wenigsten Tage, in denen die
wenigsten Stunden, das Schreiben zu gewähren. Auf den
Augen hab' ich häufig Krampf, den ich den eisernen Öfen des
südlichen Deutschlands zuschreibe. Auch hätte ich dir zu viel
zu sagen, da ich dir gerne alles sagen möchte, und davon, die
Feder in der Hand, gepeinigt bin!!! Die letzte Zeit hin-
derte mich noch dies, daß ich seit Monaten weiß, daß Mar-
kus mit Frau und Kindern den 1. Juni abreisen, um ganz
nahe hier, nach Heidelberg zu kommen, wo ich zu ihnen will,
sie in Bäder in der Gegend, und nun wollt' ich sehen, ob
ich ihn nicht bereden kann, mit mir zu dir zu reisen! Du

daß ich J. ſo unbekümmert zu dir reiſen ließ, ohne Frage,
Beſtellung, Liebes, und Lebenszeichen. Ich beneidete ihn ſehr!
Will dir alle Tage ſchreiben, beſchäftige mich in meiner Seele
immerweg mit dir; aber man iſt getrennt: und das iſt nicht
mehr als halber Tod. Den Troſt hat man nur, daß es mög-
lich bleibt, ſich zu ſehen und anzufriſchen; daß man weiß,
daß man noch in demſelben Kreis von Leid und Freud’ um-
fangen, mit den Füßen auf demſelben Erdenrund ſteht, noch
von derſelben Luft haben muß, um zu leben. Aber die Mit-
theilung ſtirbt nach und nach aus. Wie ſollte man auch ganze
Lebenswege zu Papier bringen, wann ſich die Kreiſe deſſelben
verändern, bereichern, verarmen, und man alles darin beſchrei-
ben müßte: dies allein koſtete eine Lebenszeit; und auch die
Korreſpondenz wächſt alle Tage, und ändert, wie man ſelbſt
den Wohnort und Bekannte ändern muß. Je n’y suffis plus!
Meine Nerven haben ſolche Wendung genommen, von gro-
ßen Krankheiten, deren Konvalescenz ich nie abwarten konnte,
undenklich reizbar zu ſein, die wenigſten Tage, in denen die
wenigſten Stunden, das Schreiben zu gewähren. Auf den
Augen hab’ ich häufig Krampf, den ich den eiſernen Öfen des
ſüdlichen Deutſchlands zuſchreibe. Auch hätte ich dir zu viel
zu ſagen, da ich dir gerne alles ſagen möchte, und davon, die
Feder in der Hand, gepeinigt bin!!! Die letzte Zeit hin-
derte mich noch dies, daß ich ſeit Monaten weiß, daß Mar-
kus mit Frau und Kindern den 1. Juni abreiſen, um ganz
nahe hier, nach Heidelberg zu kommen, wo ich zu ihnen will,
ſie in Bäder in der Gegend, und nun wollt’ ich ſehen, ob
ich ihn nicht bereden kann, mit mir zu dir zu reiſen! Du

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[460/0468] daß ich J. ſo unbekümmert zu dir reiſen ließ, ohne Frage, Beſtellung, Liebes, und Lebenszeichen. Ich beneidete ihn ſehr! Will dir alle Tage ſchreiben, beſchäftige mich in meiner Seele immerweg mit dir; aber man iſt getrennt: und das iſt nicht mehr als halber Tod. Den Troſt hat man nur, daß es mög- lich bleibt, ſich zu ſehen und anzufriſchen; daß man weiß, daß man noch in demſelben Kreis von Leid und Freud’ um- fangen, mit den Füßen auf demſelben Erdenrund ſteht, noch von derſelben Luft haben muß, um zu leben. Aber die Mit- theilung ſtirbt nach und nach aus. Wie ſollte man auch ganze Lebenswege zu Papier bringen, wann ſich die Kreiſe deſſelben verändern, bereichern, verarmen, und man alles darin beſchrei- ben müßte: dies allein koſtete eine Lebenszeit; und auch die Korreſpondenz wächſt alle Tage, und ändert, wie man ſelbſt den Wohnort und Bekannte ändern muß. Je n’y suffis plus! Meine Nerven haben ſolche Wendung genommen, von gro- ßen Krankheiten, deren Konvalescenz ich nie abwarten konnte, undenklich reizbar zu ſein, die wenigſten Tage, in denen die wenigſten Stunden, das Schreiben zu gewähren. Auf den Augen hab’ ich häufig Krampf, den ich den eiſernen Öfen des ſüdlichen Deutſchlands zuſchreibe. Auch hätte ich dir zu viel zu ſagen, da ich dir gerne alles ſagen möchte, und davon, die Feder in der Hand, gepeinigt bin!!! Die letzte Zeit hin- derte mich noch dies, daß ich ſeit Monaten weiß, daß Mar- kus mit Frau und Kindern den 1. Juni abreiſen, um ganz nahe hier, nach Heidelberg zu kommen, wo ich zu ihnen will, ſie in Bäder in der Gegend, und nun wollt’ ich ſehen, ob ich ihn nicht bereden kann, mit mir zu dir zu reiſen! Du

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 460. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/468>, abgerufen am 22.11.2024.