Ich sehe niemand, gehe nicht aus: und fürchte mich unver- nünftig. Sie haben mir vortrefflich geschrieben: und das Ge- fühl darüber wend' ich dazu an, daß es mir wenigstens die Kraft geben soll einen Brief zu schreiben, wenn auch nicht zu antworten. Ja mein theurer Mitmensch! -- mehr noch als zufälliger Freund -- Sie drücken es aus, wie man über Gott nicht sprechen kann. Wenn der Begriff eines solchen Daseins nicht die Gränze des unsrigen ist, was ist er denn! Eine gränzenlose Unterwerfung muß es sein jedesmal, von etwas Unendlichem erzeugt, was in uns vorgeht, was wir auffas- sen! -- Schneidende Messer sind es mir, wenn sie so dreist weg von Gott sprechen, wie von einem Amtsrath; und grade den Stummen, Übererfüllten, von ihm (ihm!) abwendig glau- ben. Diese Empfindungen machen mir auch jetzt wieder in der Bibel alle Reden und Gesetze in der Wüste. Ich werde mei- ner Nation ganz abgewandt; wenn ich auch Moses die Ge- rechtigkeit muß widerfahren lassen, daß er's mit sechsmalhun- derttausend Jungvolk nöthig hatte. Gräßlich geschrieben und vorgetragen ist es gewiß. Nur bis nach Josephs Geschichte ist es schön; so weit ich bin. --
Ich brachte diese Woche Schl. einen Theil von Heinrich Kleists Erzählungen wieder, und wollte von ihm ein Buch, und griff Spinoza. Ich lese ihn. Den habe ich mir zeitle- bens anders gedacht. Ich verstehe ihn sehr gut. Fichte ist viel schwerer. Es ist sonderbar; mir kommt immer vor, als sagten alle Philosophen dasselbe; wenn sie nicht seicht sind. Sie machen sich andere Terminologieen, die man ehrlich, gleich annehmen kann; und den Unterschied find' ich nur darin, daß
Ich ſehe niemand, gehe nicht aus: und fürchte mich unver- nünftig. Sie haben mir vortrefflich geſchrieben: und das Ge- fühl darüber wend’ ich dazu an, daß es mir wenigſtens die Kraft geben ſoll einen Brief zu ſchreiben, wenn auch nicht zu antworten. Ja mein theurer Mitmenſch! — mehr noch als zufälliger Freund — Sie drücken es aus, wie man über Gott nicht ſprechen kann. Wenn der Begriff eines ſolchen Daſeins nicht die Gränze des unſrigen iſt, was iſt er denn! Eine gränzenloſe Unterwerfung muß es ſein jedesmal, von etwas Unendlichem erzeugt, was in uns vorgeht, was wir auffaſ- ſen! — Schneidende Meſſer ſind es mir, wenn ſie ſo dreiſt weg von Gott ſprechen, wie von einem Amtsrath; und grade den Stummen, Übererfüllten, von ihm (ihm!) abwendig glau- ben. Dieſe Empfindungen machen mir auch jetzt wieder in der Bibel alle Reden und Geſetze in der Wüſte. Ich werde mei- ner Nation ganz abgewandt; wenn ich auch Moſes die Ge- rechtigkeit muß widerfahren laſſen, daß er’s mit ſechsmalhun- derttauſend Jungvolk nöthig hatte. Gräßlich geſchrieben und vorgetragen iſt es gewiß. Nur bis nach Joſephs Geſchichte iſt es ſchön; ſo weit ich bin. —
Ich brachte dieſe Woche Schl. einen Theil von Heinrich Kleiſts Erzählungen wieder, und wollte von ihm ein Buch, und griff Spinoza. Ich leſe ihn. Den habe ich mir zeitle- bens anders gedacht. Ich verſtehe ihn ſehr gut. Fichte iſt viel ſchwerer. Es iſt ſonderbar; mir kommt immer vor, als ſagten alle Philoſophen daſſelbe; wenn ſie nicht ſeicht ſind. Sie machen ſich andere Terminologieen, die man ehrlich, gleich annehmen kann; und den Unterſchied find’ ich nur darin, daß
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Ich ſehe niemand, gehe nicht aus: und fürchte mich unver-
nünftig. Sie haben mir vortrefflich geſchrieben: und das Ge-
fühl darüber wend’ ich dazu an, daß es mir wenigſtens die
Kraft geben ſoll einen Brief zu ſchreiben, wenn auch nicht zu
antworten. Ja mein theurer Mitmenſch! — mehr noch als
zufälliger Freund — Sie drücken es aus, wie man über Gott
nicht ſprechen kann. Wenn der Begriff eines ſolchen Daſeins
nicht die Gränze des unſrigen iſt, was iſt er denn! Eine
gränzenloſe Unterwerfung muß es ſein jedesmal, von etwas
Unendlichem erzeugt, was in uns vorgeht, was wir auffaſ-
ſen! — Schneidende Meſſer ſind es mir, wenn ſie ſo dreiſt
weg von Gott ſprechen, wie von einem Amtsrath; und grade
den Stummen, Übererfüllten, von ihm (ihm!) abwendig glau-
ben. Dieſe Empfindungen machen mir auch jetzt wieder in der
Bibel alle Reden und Geſetze in der Wüſte. Ich werde mei-
ner Nation ganz abgewandt; wenn ich auch Moſes die Ge-
rechtigkeit muß widerfahren laſſen, daß er’s mit ſechsmalhun-
derttauſend Jungvolk nöthig hatte. Gräßlich geſchrieben und
vorgetragen iſt es gewiß. Nur bis nach Joſephs Geſchichte
iſt es ſchön; ſo weit ich bin. —
Ich brachte dieſe Woche Schl. einen Theil von Heinrich
Kleiſts Erzählungen wieder, und wollte von ihm ein Buch,
und griff Spinoza. Ich leſe ihn. Den habe ich mir zeitle-
bens anders gedacht. Ich verſtehe ihn ſehr gut. Fichte iſt
viel ſchwerer. Es iſt ſonderbar; mir kommt immer vor, als
ſagten alle Philoſophen daſſelbe; wenn ſie nicht ſeicht ſind.
Sie machen ſich andere Terminologieen, die man ehrlich, gleich
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/46>, abgerufen am 24.11.2024.
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