gen kennen, kommt, dünkt mich, dem jetzigen Zustande der Erde gleich! Alte gebildete Völker hatten Säulen zu Gränzen der Welt, Höhlen zur Hölle, schöne Inseln und Berge zum Olymp; nannten andere Völker Barbaren, wollten dies, und nahmen sie zu Sklaven. Jetzt aber, wo die ganze Erde bereiset, gekannt, Kompaß, Teleskop, Druckerei, Menschenrechte, und wer weiß alles was erfunden ist, in vierzehn Tagen allenthalben gewußt ist, was allenthalben geschehen ist, und doch die Urbe- dürfnisse, Nahrung, Vermehrung, das höhere und höhere Wollen, fortexistiren: wie sollen die alten Sittenerfindungen noch vor- halten (nicht das Bedürfniß nach Sitte, für welches erfunden oder entdeckt werden muß)? Daran, glaube ich, krankt die jetzige Welt; so mannigfaltig ausgebildet, groß und allgemein war diese Krankheit noch in keinem uns bekannt gewordenen Zeitpunkt, obgleich sie nur nach und nach diese Ausbreitung gewinnen konnte, wozu eine ewige Anlage da war. So denk' ich mir das ganze Dasein progressiv, in intensivem An- schauungsgewinn, zu dessen sensiblem Wissen nach beiden Rich- tungen, nach der uns lieben und nicht lieben: so steigert sich das Leben, das auf der Erde abzuleben ist, und ein anderes, das außerhalb ihres Reiches fällt. Je mehr Einsicht, je mehr Ein- und Zustimmung wird das Leben uns abgewinnen, wenn auch noch mehr Arbeit: jede vollbrachte gleicht unendlich aus; jede neue steigt unendlich. Darum denk' ich auch wahr und wirklich, daß das Erdenleben nicht eine steife, todte Wie- derholung ist, sondern ein schreitendes Ändern und Entwickeln wie alles; für die Einsicht, und durch die Einsicht; und nenne unsere Zeit wirklich neu, und bin auf Großes, Neues gefaßt,
gen kennen, kommt, dünkt mich, dem jetzigen Zuſtande der Erde gleich! Alte gebildete Völker hatten Säulen zu Gränzen der Welt, Höhlen zur Hölle, ſchöne Inſeln und Berge zum Olymp; nannten andere Völker Barbaren, wollten dies, und nahmen ſie zu Sklaven. Jetzt aber, wo die ganze Erde bereiſet, gekannt, Kompaß, Teleſkop, Druckerei, Menſchenrechte, und wer weiß alles was erfunden iſt, in vierzehn Tagen allenthalben gewußt iſt, was allenthalben geſchehen iſt, und doch die Urbe- dürfniſſe, Nahrung, Vermehrung, das höhere und höhere Wollen, fortexiſtiren: wie ſollen die alten Sittenerfindungen noch vor- halten (nicht das Bedürfniß nach Sitte, für welches erfunden oder entdeckt werden muß)? Daran, glaube ich, krankt die jetzige Welt; ſo mannigfaltig ausgebildet, groß und allgemein war dieſe Krankheit noch in keinem uns bekannt gewordenen Zeitpunkt, obgleich ſie nur nach und nach dieſe Ausbreitung gewinnen konnte, wozu eine ewige Anlage da war. So denk’ ich mir das ganze Daſein progreſſiv, in intenſivem An- ſchauungsgewinn, zu deſſen ſenſiblem Wiſſen nach beiden Rich- tungen, nach der uns lieben und nicht lieben: ſo ſteigert ſich das Leben, das auf der Erde abzuleben iſt, und ein anderes, das außerhalb ihres Reiches fällt. Je mehr Einſicht, je mehr Ein- und Zuſtimmung wird das Leben uns abgewinnen, wenn auch noch mehr Arbeit: jede vollbrachte gleicht unendlich aus; jede neue ſteigt unendlich. Darum denk’ ich auch wahr und wirklich, daß das Erdenleben nicht eine ſteife, todte Wie- derholung iſt, ſondern ein ſchreitendes Ändern und Entwickeln wie alles; für die Einſicht, und durch die Einſicht; und nenne unſere Zeit wirklich neu, und bin auf Großes, Neues gefaßt,
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gen kennen, kommt, dünkt mich, dem jetzigen Zuſtande der
Erde gleich! Alte gebildete Völker hatten Säulen zu Gränzen
der Welt, Höhlen zur Hölle, ſchöne Inſeln und Berge zum
Olymp; nannten andere Völker Barbaren, wollten dies, und
nahmen ſie zu Sklaven. Jetzt aber, wo die ganze Erde bereiſet,
gekannt, Kompaß, Teleſkop, Druckerei, Menſchenrechte, und
wer weiß alles was erfunden iſt, in vierzehn Tagen allenthalben
gewußt iſt, was allenthalben geſchehen iſt, und doch die Urbe-
dürfniſſe, Nahrung, Vermehrung, das höhere und höhere Wollen,
fortexiſtiren: wie ſollen die alten Sittenerfindungen noch vor-
halten (nicht das Bedürfniß nach Sitte, für welches erfunden
oder entdeckt werden muß)? Daran, glaube ich, krankt die
jetzige Welt; ſo mannigfaltig ausgebildet, groß und allgemein
war dieſe Krankheit noch in keinem uns bekannt gewordenen
Zeitpunkt, obgleich ſie nur nach und nach dieſe Ausbreitung
gewinnen konnte, wozu eine ewige Anlage da war. So
denk’ ich mir das ganze Daſein progreſſiv, in intenſivem An-
ſchauungsgewinn, zu deſſen ſenſiblem Wiſſen nach beiden Rich-
tungen, nach der uns lieben und nicht lieben: ſo ſteigert ſich
das Leben, das auf der Erde abzuleben iſt, und ein anderes,
das außerhalb ihres Reiches fällt. Je mehr Einſicht, je mehr
Ein- und Zuſtimmung wird das Leben uns abgewinnen, wenn
auch noch mehr Arbeit: jede vollbrachte gleicht unendlich
aus; jede neue ſteigt unendlich. Darum denk’ ich auch wahr
und wirklich, daß das Erdenleben nicht eine ſteife, todte Wie-
derholung iſt, ſondern ein ſchreitendes Ändern und Entwickeln
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unſere Zeit wirklich neu, und bin auf Großes, Neues gefaßt,
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 383. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/391>, abgerufen am 26.11.2024.
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