Ich bedaure Sie, lieber Neumann! Wie schon immer sonst, die Leute, die viel zu mir kamen. "Besseres haben sie nicht?" dacht' ich oft; "Das ist ihr Vergnügen?" Der Aufent- halt bei uns, Lieber, mußte Sie erfrischen? O! heiße Jahre, wo man so rechnet! wir wollen aber gar nicht rechnen; weil man doch nichts heraus rechnet, als etwa wie alt man ist; was einem nicht gelungen ist; u. s. w. Wir wollen nur ma- teriell von uns sprechen; uns erzählen, wenn uns etwas Auf- fallendes, oder Scherzhaftes begegnet; oder wenn wir ein gro- ßes helles Glück haben. Etwas böse bin ich mit Ihnen; daß Sie mir Nachsicht anrechnen, die ich wie eine Jugendfreundin gehabt hätte: ich kenne Sie also nicht als Wilhelm von Ju- gend auf? kennte Sie auch ohne dies nicht doch, durch und durch, von unserm Umgang; und als V's Freund; und müßte nicht etwa Sie so gut behandlen, als ich Sie kenne? --
Wir sind diesen Abend bei Mad. de Custine; Donners- tag auf einen großen Ball bei Otterstedt; ich gehe vor das Thor, wenn es das Wetter erlaubt. Das Übrige kennen Sie von uns; mehr giebt es nicht. Schreiben Sie mir manchmal; Phantasiestücke! Dann antworte ich.
R.
An Ludwig Robert, in Berlin.
Frankfurt a. M. den 5. Februar 1816.
-- Schleiermacher ist meines Bedünkens seit der "Weih- nachtsfeier" schon herabgestiegen. Dieser war mir der erste Beleg, daß die hohe, scharfe Seele, die auch still und einsam,
Ich bedaure Sie, lieber Neumann! Wie ſchon immer ſonſt, die Leute, die viel zu mir kamen. „Beſſeres haben ſie nicht?“ dacht’ ich oft; „Das iſt ihr Vergnügen?“ Der Aufent- halt bei uns, Lieber, mußte Sie erfriſchen? O! heiße Jahre, wo man ſo rechnet! wir wollen aber gar nicht rechnen; weil man doch nichts heraus rechnet, als etwa wie alt man iſt; was einem nicht gelungen iſt; u. ſ. w. Wir wollen nur ma- teriell von uns ſprechen; uns erzählen, wenn uns etwas Auf- fallendes, oder Scherzhaftes begegnet; oder wenn wir ein gro- ßes helles Glück haben. Etwas böſe bin ich mit Ihnen; daß Sie mir Nachſicht anrechnen, die ich wie eine Jugendfreundin gehabt hätte: ich kenne Sie alſo nicht als Wilhelm von Ju- gend auf? kennte Sie auch ohne dies nicht doch, durch und durch, von unſerm Umgang; und als V’s Freund; und müßte nicht etwa Sie ſo gut behandlen, als ich Sie kenne? —
Wir ſind dieſen Abend bei Mad. de Cuſtine; Donners- tag auf einen großen Ball bei Otterſtedt; ich gehe vor das Thor, wenn es das Wetter erlaubt. Das Übrige kennen Sie von uns; mehr giebt es nicht. Schreiben Sie mir manchmal; Phantaſieſtücke! Dann antworte ich.
R.
An Ludwig Robert, in Berlin.
Frankfurt a. M. den 5. Februar 1816.
— Schleiermacher iſt meines Bedünkens ſeit der „Weih- nachtsfeier“ ſchon herabgeſtiegen. Dieſer war mir der erſte Beleg, daß die hohe, ſcharfe Seele, die auch ſtill und einſam,
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Ich bedaure Sie, lieber Neumann! Wie ſchon immer
ſonſt, die Leute, die viel zu mir kamen. „Beſſeres haben ſie
nicht?“ dacht’ ich oft; „Das iſt ihr Vergnügen?“ Der Aufent-
halt bei uns, Lieber, mußte Sie erfriſchen? O! heiße Jahre,
wo man ſo rechnet! wir wollen aber gar nicht rechnen; weil
man doch nichts heraus rechnet, als etwa wie alt man iſt;
was einem nicht gelungen iſt; u. ſ. w. Wir wollen nur ma-
teriell von uns ſprechen; uns erzählen, wenn uns etwas Auf-
fallendes, oder Scherzhaftes begegnet; oder wenn wir ein gro-
ßes helles Glück haben. Etwas böſe bin ich mit Ihnen; daß
Sie mir Nachſicht anrechnen, die ich wie eine Jugendfreundin
gehabt hätte: ich kenne Sie alſo nicht als Wilhelm von Ju-
gend auf? kennte Sie auch ohne dies nicht doch, durch und
durch, von unſerm Umgang; und als V’s Freund; und müßte
nicht etwa Sie ſo gut behandlen, als ich Sie kenne? —
Wir ſind dieſen Abend bei Mad. de Cuſtine; Donners-
tag auf einen großen Ball bei Otterſtedt; ich gehe vor das
Thor, wenn es das Wetter erlaubt. Das Übrige kennen Sie
von uns; mehr giebt es nicht. Schreiben Sie mir manchmal;
Phantaſieſtücke! Dann antworte ich.
R.
An Ludwig Robert, in Berlin.
Frankfurt a. M. den 5. Februar 1816.
— Schleiermacher iſt meines Bedünkens ſeit der „Weih-
nachtsfeier“ ſchon herabgeſtiegen. Dieſer war mir der erſte
Beleg, daß die hohe, ſcharfe Seele, die auch ſtill und einſam,
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 379. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/387>, abgerufen am 26.11.2024.
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