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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834.

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Tag zum andern, in der fremden ungeselligen Stadt, mit Mäd-
chen und Bedienten allein; bis den 3. November; da kam
endlich Varnhagen, vier Wochen dem Kanzler voraus; nun
warten wir wieder hier. Diese unangenehme, alles Etabliren
und Häuslichkeit störende Ungewißheit hielt mich bei den größ-
ten Gewissensschmerzen von Tag zu Tag ab, dir zu schreiben;
weil ich dir doch auch gerne etwas Gewisses schreiben wollte.
Ja, nicht einmal Raum noch Muße, des Raumes wegen,
in der letzten Zeit hatte. Diesen Sommer miethete ich, wie
ich glaubte für wenige Wochen, zwei Zimmer, wovon eins
eine Kammer ist, für mich -- den 19. August kam ich hier
an --, und nun bewohne ich diese zusammengesperrt mit Varn-
hagen, Mädchen und Bedienten. Ich! -- die ewig gut
wohnte bei Mama; der Quartier, Lokal, alles ist; die ein
schlechtes gradezu tödtet: und ein Beisammensein! Siehest
du! Ich habe kein Glück! denn seit meiner Verheirathung
wohne ich so. In Wien kam ich den 3. November mitten im
Kongreß hin: aber auch um dort angestellt zu bleiben beim
preußischen Gesandten, der nach dem, sich immer verzögernden
Kongreß kommen sollte; also mietheten wir, bis der eintreffen
sollte, kein anderes Quartier. Dann kam Napoleon, der Krieg
ging los; Varnhagen wurde anders, nach Paris bestimmt;
von dort sollte er wieder zum Kanzler, nach Berlin; nun,
plötzlich, nach Karlsruhe; und ich in der Seele bin noch
nicht gewiß, ob wir da hin kommen. Also immer sur chemin
et voie;
was mich der Position wegen in der Jugend entzückt
hätte! -- -- -- jetzt aber, da die Welt ein Meer, und alle
Positionen schwindende, nicht erkannte Wellen sind, mir ein

Tag zum andern, in der fremden ungeſelligen Stadt, mit Mäd-
chen und Bedienten allein; bis den 3. November; da kam
endlich Varnhagen, vier Wochen dem Kanzler voraus; nun
warten wir wieder hier. Dieſe unangenehme, alles Etabliren
und Häuslichkeit ſtörende Ungewißheit hielt mich bei den größ-
ten Gewiſſensſchmerzen von Tag zu Tag ab, dir zu ſchreiben;
weil ich dir doch auch gerne etwas Gewiſſes ſchreiben wollte.
Ja, nicht einmal Raum noch Muße, des Raumes wegen,
in der letzten Zeit hatte. Dieſen Sommer miethete ich, wie
ich glaubte für wenige Wochen, zwei Zimmer, wovon eins
eine Kammer iſt, für mich — den 19. Auguſt kam ich hier
an —, und nun bewohne ich dieſe zuſammengeſperrt mit Varn-
hagen, Mädchen und Bedienten. Ich! — die ewig gut
wohnte bei Mama; der Quartier, Lokal, alles iſt; die ein
ſchlechtes gradezu tödtet: und ein Beiſammenſein! Sieheſt
du! Ich habe kein Glück! denn ſeit meiner Verheirathung
wohne ich ſo. In Wien kam ich den 3. November mitten im
Kongreß hin: aber auch um dort angeſtellt zu bleiben beim
preußiſchen Geſandten, der nach dem, ſich immer verzögernden
Kongreß kommen ſollte; alſo mietheten wir, bis der eintreffen
ſollte, kein anderes Quartier. Dann kam Napoleon, der Krieg
ging los; Varnhagen wurde anders, nach Paris beſtimmt;
von dort ſollte er wieder zum Kanzler, nach Berlin; nun,
plötzlich, nach Karlsruhe; und ich in der Seele bin noch
nicht gewiß, ob wir da hin kommen. Alſo immer sur chemin
et voìe;
was mich der Poſition wegen in der Jugend entzückt
hätte! — — — jetzt aber, da die Welt ein Meer, und alle
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[364/0372] Tag zum andern, in der fremden ungeſelligen Stadt, mit Mäd- chen und Bedienten allein; bis den 3. November; da kam endlich Varnhagen, vier Wochen dem Kanzler voraus; nun warten wir wieder hier. Dieſe unangenehme, alles Etabliren und Häuslichkeit ſtörende Ungewißheit hielt mich bei den größ- ten Gewiſſensſchmerzen von Tag zu Tag ab, dir zu ſchreiben; weil ich dir doch auch gerne etwas Gewiſſes ſchreiben wollte. Ja, nicht einmal Raum noch Muße, des Raumes wegen, in der letzten Zeit hatte. Dieſen Sommer miethete ich, wie ich glaubte für wenige Wochen, zwei Zimmer, wovon eins eine Kammer iſt, für mich — den 19. Auguſt kam ich hier an —, und nun bewohne ich dieſe zuſammengeſperrt mit Varn- hagen, Mädchen und Bedienten. Ich! — die ewig gut wohnte bei Mama; der Quartier, Lokal, alles iſt; die ein ſchlechtes gradezu tödtet: und ein Beiſammenſein! Sieheſt du! Ich habe kein Glück! denn ſeit meiner Verheirathung wohne ich ſo. In Wien kam ich den 3. November mitten im Kongreß hin: aber auch um dort angeſtellt zu bleiben beim preußiſchen Geſandten, der nach dem, ſich immer verzögernden Kongreß kommen ſollte; alſo mietheten wir, bis der eintreffen ſollte, kein anderes Quartier. Dann kam Napoleon, der Krieg ging los; Varnhagen wurde anders, nach Paris beſtimmt; von dort ſollte er wieder zum Kanzler, nach Berlin; nun, plötzlich, nach Karlsruhe; und ich in der Seele bin noch nicht gewiß, ob wir da hin kommen. Alſo immer sur chemin et voìe; was mich der Poſition wegen in der Jugend entzückt hätte! — — — jetzt aber, da die Welt ein Meer, und alle Poſitionen ſchwindende, nicht erkannte Wellen ſind, mir ein

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 364. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/372>, abgerufen am 24.11.2024.