selbst drüber weinen. Adieu! Deine stolze, beschämte, ärger- liche, treue, kluge bei der Dummheit!
R.
An Varnhagen, in Paris.
Frankfurt a. M. den 11. September 1815. Montag Mittag halb 1 Uhr.
Gestern Mittag, als ich von einem Sonnengang mit Do- ren zurückkam, fand ich deinen mich überaus beglückenden Brief vom 2. September, mit den Modekupfern und Ney's Vertheidigung. Liebes! "gelehriges Herz!" du verheißest mir in diesem lieben, aus Liebe gewebten Brief die Mitte Ok- tobers zu dem nicht zu erwartenden Glück, dich wiederzuhaben! Wenn ich nur leben bleibe! In keiner Krankheit hab' ich mich so vor dem Tode gefürchtet. Ich soll vergnügt sein! Ein- ziger theurer Freund, ich bin es, (ich will Geduld haben!) da ich dich bald sehen soll: wir werden hier, auf der Reise, allenthalben sehr vergnügt sein; zu Hause allenthalben; und die Welt geht ihren Gang, "wie Sonne und Mond und an- dre Götter," wir erleben das Ende nicht, drum wollen wir in der Mitte leben, und ihr zuschauen. Du denkst unaufhörlich an mich? fragst bei aller Gelegenheit um meine Billigung und Einsicht bei deinem ganzen Thun und Lassen; leider wohl oft ohne sie zu bekommen, fürchtest du; aber darum doch nicht ablassend in deinem Eifer? Und ich --! konnte, eh' ich dich hatte, gut, ganz gut, allein leben auf der Welt; hofft' es, ersah es, prätendirte es gar nicht anders, suchte es nicht mehr, in Gelassenheit, und Vergnügtheit, wenn sie mich in Ruhe
ſelbſt drüber weinen. Adieu! Deine ſtolze, beſchämte, ärger- liche, treue, kluge bei der Dummheit!
R.
An Varnhagen, in Paris.
Frankfurt a. M. den 11. September 1815. Montag Mittag halb 1 Uhr.
Geſtern Mittag, als ich von einem Sonnengang mit Do- ren zurückkam, fand ich deinen mich überaus beglückenden Brief vom 2. September, mit den Modekupfern und Ney’s Vertheidigung. Liebes! „gelehriges Herz!“ du verheißeſt mir in dieſem lieben, aus Liebe gewebten Brief die Mitte Ok- tobers zu dem nicht zu erwartenden Glück, dich wiederzuhaben! Wenn ich nur leben bleibe! In keiner Krankheit hab’ ich mich ſo vor dem Tode gefürchtet. Ich ſoll vergnügt ſein! Ein- ziger theurer Freund, ich bin es, (ich will Geduld haben!) da ich dich bald ſehen ſoll: wir werden hier, auf der Reiſe, allenthalben ſehr vergnügt ſein; zu Hauſe allenthalben; und die Welt geht ihren Gang, „wie Sonne und Mond und an- dre Götter,“ wir erleben das Ende nicht, drum wollen wir in der Mitte leben, und ihr zuſchauen. Du denkſt unaufhörlich an mich? fragſt bei aller Gelegenheit um meine Billigung und Einſicht bei deinem ganzen Thun und Laſſen; leider wohl oft ohne ſie zu bekommen, fürchteſt du; aber darum doch nicht ablaſſend in deinem Eifer? Und ich —! konnte, eh’ ich dich hatte, gut, ganz gut, allein leben auf der Welt; hofft’ es, erſah es, prätendirte es gar nicht anders, ſuchte es nicht mehr, in Gelaſſenheit, und Vergnügtheit, wenn ſie mich in Ruhe
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ſelbſt drüber weinen. Adieu! Deine ſtolze, beſchämte, ärger-
liche, treue, kluge bei der Dummheit!
R.
An Varnhagen, in Paris.
Frankfurt a. M. den 11. September 1815.
Montag Mittag halb 1 Uhr.
Geſtern Mittag, als ich von einem Sonnengang mit Do-
ren zurückkam, fand ich deinen mich überaus beglückenden
Brief vom 2. September, mit den Modekupfern und Ney’s
Vertheidigung. Liebes! „gelehriges Herz!“ du verheißeſt
mir in dieſem lieben, aus Liebe gewebten Brief die Mitte Ok-
tobers zu dem nicht zu erwartenden Glück, dich wiederzuhaben!
Wenn ich nur leben bleibe! In keiner Krankheit hab’ ich mich
ſo vor dem Tode gefürchtet. Ich ſoll vergnügt ſein! Ein-
ziger theurer Freund, ich bin es, (ich will Geduld haben!)
da ich dich bald ſehen ſoll: wir werden hier, auf der Reiſe,
allenthalben ſehr vergnügt ſein; zu Hauſe allenthalben; und
die Welt geht ihren Gang, „wie Sonne und Mond und an-
dre Götter,“ wir erleben das Ende nicht, drum wollen wir in
der Mitte leben, und ihr zuſchauen. Du denkſt unaufhörlich
an mich? fragſt bei aller Gelegenheit um meine Billigung
und Einſicht bei deinem ganzen Thun und Laſſen; leider wohl
oft ohne ſie zu bekommen, fürchteſt du; aber darum doch nicht
ablaſſend in deinem Eifer? Und ich —! konnte, eh’ ich dich
hatte, gut, ganz gut, allein leben auf der Welt; hofft’ es,
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 334. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/342>, abgerufen am 25.11.2024.
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