ist das bewunderungswürdigste Land! Erstlich, begreife ich nicht, wo in einer ganzen solchen Zeit nur eine Ernte, eine Aussaat, eine Fabrikation zu Stande kam; und dann, wie in wenigen ruhigen Regierungsjahren sich eine so freundlich feine Sitte bilden konnte, die das Muster der übrigen Erde wurde. Das sind wahrlich ächte Menschen; sehr bös, sehr vergeßlich, und leichtsinnig; sehr religions- und ehrbedürftig, geschickt und zerstörend, geistreich und roh; und ganz unbe- greiflich. Und solche unbegreifliche Unsinne gehen vor! oder ist das nur der Verfasser der Memoiren? Welch entsetzliches Aufheben wird von Johanns von Burgund Ermordung ge- macht, als wenn er ein unschuldig Täubchen wäre, und der Herzog von Orleans von seinem Girren umgefallen wäre? Als Johann den vor, -- oder hinter, kurz beim Ausgang einer Kirche -- morden ließ, und es drei Tage nachher selbst ge- stand, geschah nichts; als kriegen, welches immer seinen Gang hatte; und als Mörder, Mörder eines königlichen Prinzen, eines Verwandten, war nicht von ihm die Rede. Wissen Sie, was ich bemerke, woraus großentheils das Unglück der Zeiten besteht? Daß eine immer in die andere greift; und nicht die neue in die alte, sondern die alte noch in die neue. Frank- reichs Unglück, zum Exempel, hätte damals gar nicht so wach- sen können, wären nicht so viele feste Schlösser dort, so viele kleine Gebiete, so verflochtene Herrschaften vorhanden gewe- sen; und der Sinn und die Meinung all der Besitzer davon: daß sie theils eigenmächtig und wehrständig sind, und theils das Recht haben einen Lehnsherrn nach Belieben zu wählen. Von den Vilains war nur beiläufig die Rede, und das durch
iſt das bewunderungswürdigſte Land! Erſtlich, begreife ich nicht, wo in einer ganzen ſolchen Zeit nur eine Ernte, eine Ausſaat, eine Fabrikation zu Stande kam; und dann, wie in wenigen ruhigen Regierungsjahren ſich eine ſo freundlich feine Sitte bilden konnte, die das Muſter der übrigen Erde wurde. Das ſind wahrlich ächte Menſchen; ſehr bös, ſehr vergeßlich, und leichtſinnig; ſehr religions- und ehrbedürftig, geſchickt und zerſtörend, geiſtreich und roh; und ganz unbe- greiflich. Und ſolche unbegreifliche Unſinne gehen vor! oder iſt das nur der Verfaſſer der Memoiren? Welch entſetzliches Aufheben wird von Johanns von Burgund Ermordung ge- macht, als wenn er ein unſchuldig Täubchen wäre, und der Herzog von Orleans von ſeinem Girren umgefallen wäre? Als Johann den vor, — oder hinter, kurz beim Ausgang einer Kirche — morden ließ, und es drei Tage nachher ſelbſt ge- ſtand, geſchah nichts; als kriegen, welches immer ſeinen Gang hatte; und als Mörder, Mörder eines königlichen Prinzen, eines Verwandten, war nicht von ihm die Rede. Wiſſen Sie, was ich bemerke, woraus großentheils das Unglück der Zeiten beſteht? Daß eine immer in die andere greift; und nicht die neue in die alte, ſondern die alte noch in die neue. Frank- reichs Unglück, zum Exempel, hätte damals gar nicht ſo wach- ſen können, wären nicht ſo viele feſte Schlöſſer dort, ſo viele kleine Gebiete, ſo verflochtene Herrſchaften vorhanden gewe- ſen; und der Sinn und die Meinung all der Beſitzer davon: daß ſie theils eigenmächtig und wehrſtändig ſind, und theils das Recht haben einen Lehnsherrn nach Belieben zu wählen. Von den Vilains war nur beiläufig die Rede, und das durch
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0034"n="26"/>
iſt das bewunderungswürdigſte Land! Erſtlich, begreife ich<lb/>
nicht, wo in einer ganzen ſolchen Zeit nur eine Ernte, eine<lb/>
Ausſaat, eine Fabrikation zu Stande kam; und dann, wie<lb/>
in wenigen ruhigen Regierungsjahren ſich eine ſo freundlich<lb/>
feine Sitte bilden konnte, die das Muſter der übrigen Erde<lb/>
wurde. Das ſind wahrlich <hirendition="#g">ächte</hi> Menſchen; ſehr bös, ſehr<lb/>
vergeßlich, und leichtſinnig; ſehr religions- und ehrbedürftig,<lb/>
geſchickt und zerſtörend, geiſtreich und roh; und ganz unbe-<lb/>
greiflich. Und ſolche unbegreifliche Unſinne gehen vor! oder<lb/>
iſt das nur der Verfaſſer der Memoiren? Welch entſetzliches<lb/>
Aufheben wird von Johanns von Burgund Ermordung ge-<lb/>
macht, als wenn er ein unſchuldig Täubchen wäre, und der<lb/>
Herzog von Orleans von ſeinem Girren umgefallen wäre?<lb/>
Als Johann den vor, — oder hinter, kurz beim Ausgang einer<lb/>
Kirche — morden ließ, und es drei Tage nachher ſelbſt ge-<lb/>ſtand, geſchah nichts; als kriegen, welches immer ſeinen Gang<lb/>
hatte; und als Mörder, Mörder eines königlichen Prinzen,<lb/>
eines Verwandten, war nicht von ihm die Rede. Wiſſen Sie,<lb/>
was ich bemerke, woraus großentheils das Unglück der Zeiten<lb/>
beſteht? Daß eine immer in die andere greift; und nicht die<lb/>
neue in die alte, ſondern die alte noch in die neue. Frank-<lb/>
reichs Unglück, zum Exempel, hätte damals gar nicht ſo wach-<lb/>ſen können, wären nicht ſo viele feſte Schlöſſer dort, ſo viele<lb/>
kleine Gebiete, ſo verflochtene Herrſchaften vorhanden gewe-<lb/>ſen; und der Sinn und die Meinung all der Beſitzer davon:<lb/>
daß ſie theils eigenmächtig und wehrſtändig ſind, und theils<lb/>
das Recht haben einen Lehnsherrn nach Belieben zu wählen.<lb/>
Von den Vilains war nur beiläufig die Rede, und das durch<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[26/0034]
iſt das bewunderungswürdigſte Land! Erſtlich, begreife ich
nicht, wo in einer ganzen ſolchen Zeit nur eine Ernte, eine
Ausſaat, eine Fabrikation zu Stande kam; und dann, wie
in wenigen ruhigen Regierungsjahren ſich eine ſo freundlich
feine Sitte bilden konnte, die das Muſter der übrigen Erde
wurde. Das ſind wahrlich ächte Menſchen; ſehr bös, ſehr
vergeßlich, und leichtſinnig; ſehr religions- und ehrbedürftig,
geſchickt und zerſtörend, geiſtreich und roh; und ganz unbe-
greiflich. Und ſolche unbegreifliche Unſinne gehen vor! oder
iſt das nur der Verfaſſer der Memoiren? Welch entſetzliches
Aufheben wird von Johanns von Burgund Ermordung ge-
macht, als wenn er ein unſchuldig Täubchen wäre, und der
Herzog von Orleans von ſeinem Girren umgefallen wäre?
Als Johann den vor, — oder hinter, kurz beim Ausgang einer
Kirche — morden ließ, und es drei Tage nachher ſelbſt ge-
ſtand, geſchah nichts; als kriegen, welches immer ſeinen Gang
hatte; und als Mörder, Mörder eines königlichen Prinzen,
eines Verwandten, war nicht von ihm die Rede. Wiſſen Sie,
was ich bemerke, woraus großentheils das Unglück der Zeiten
beſteht? Daß eine immer in die andere greift; und nicht die
neue in die alte, ſondern die alte noch in die neue. Frank-
reichs Unglück, zum Exempel, hätte damals gar nicht ſo wach-
ſen können, wären nicht ſo viele feſte Schlöſſer dort, ſo viele
kleine Gebiete, ſo verflochtene Herrſchaften vorhanden gewe-
ſen; und der Sinn und die Meinung all der Beſitzer davon:
daß ſie theils eigenmächtig und wehrſtändig ſind, und theils
das Recht haben einen Lehnsherrn nach Belieben zu wählen.
Von den Vilains war nur beiläufig die Rede, und das durch
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/34>, abgerufen am 30.01.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.