mißfällt mir: Goethe muß ich anders, natürlich, sehen: wie alles. Du weißt, im Leben hab' ich noch keine Bekanntschaft gesucht, als eine, der mehr an mir, als mir an ihr liegen mußte. Man steht sonst zu dumm da; was sollt' ich Goethen sagen. Wenn er sich's erinnert, weiß er wie ich ihn liebe; oder auch nicht: denn dies grade weiß er nicht. Povero vec- chio! rief Einmal über das andere neulich, in den einfältigen Stücken, eine Italiänerin neben mir aus, die nicht ein Wort deutsch verstand, und der ihr Gemahl, ein russischer General, alles in's Ohr übersetzte; povero vecchio! wie ein Wucherer ein schönes junges Mädchen nicht bekam, und bekommen sollte, Er sah ihr so mitleidig aus. Bedauerlich! wollte ich jetzt auf Goethe sagen: das heißtpoveretto. Dies fehlt ihm; den Genuß schenkten ihm die Götter nicht; den refüsirte das Schicksal. Ich habe Unendliches von ihm gehabt. Er nicht mich. Und so lass' ich es denn! Getrost. Mich dünkt so- gar, es muß Wichtiges im Leben zurückbleiben, Wichtigstes, worauf wir einen größten Werth setzen; mich dünkt es so, wenn das Leben selbst sehr wichtig, oder vielmehr wir uns so bleiben sollen. So hab' ich es kennen lernen, und erlernt; dazu hab' ich Kraft: im Gegentheil bin ich ganz ignorant, und verstehe es wahrlich nicht; die größten Menschen sind gewiß die, welche im Vollgelingen des Glückes ergründen, sich ausbilden, und Kräfte bekommen: solcher bin ich nicht, und solche Starke kenne ich auch nicht: auf solches warte ich nicht, aber solche möchte ich noch kennen: sonst "acht' ich keinen Mann mehr!" wie Schillers Elisabeth, ziemlich dumm und unverständlich, zu Posa sagt. Ihre Gaben, ihren Her-
mißfällt mir: Goethe muß ich anders, natürlich, ſehen: wie alles. Du weißt, im Leben hab’ ich noch keine Bekanntſchaft geſucht, als eine, der mehr an mir, als mir an ihr liegen mußte. Man ſteht ſonſt zu dumm da; was ſollt’ ich Goethen ſagen. Wenn er ſich’s erinnert, weiß er wie ich ihn liebe; oder auch nicht: denn dies grade weiß er nicht. Povero vec- chio! rief Einmal über das andere neulich, in den einfältigen Stücken, eine Italiänerin neben mir aus, die nicht ein Wort deutſch verſtand, und der ihr Gemahl, ein ruſſiſcher General, alles in’s Ohr überſetzte; povero vecchio! wie ein Wucherer ein ſchönes junges Mädchen nicht bekam, und bekommen ſollte, Er ſah ihr ſo mitleidig aus. Bedauerlich! wollte ich jetzt auf Goethe ſagen: das heißtpoveretto. Dies fehlt ihm; den Genuß ſchenkten ihm die Götter nicht; den refüſirte das Schickſal. Ich habe Unendliches von ihm gehabt. Er nicht mich. Und ſo laſſ’ ich es denn! Getroſt. Mich dünkt ſo- gar, es muß Wichtiges im Leben zurückbleiben, Wichtigſtes, worauf wir einen größten Werth ſetzen; mich dünkt es ſo, wenn das Leben ſelbſt ſehr wichtig, oder vielmehr wir uns ſo bleiben ſollen. So hab’ ich es kennen lernen, und erlernt; dazu hab’ ich Kraft: im Gegentheil bin ich ganz ignorant, und verſtehe es wahrlich nicht; die größten Menſchen ſind gewiß die, welche im Vollgelingen des Glückes ergründen, ſich ausbilden, und Kräfte bekommen: ſolcher bin ich nicht, und ſolche Starke kenne ich auch nicht: auf ſolches warte ich nicht, aber ſolche möchte ich noch kennen: ſonſt „acht’ ich keinen Mann mehr!“ wie Schillers Eliſabeth, ziemlich dumm und unverſtändlich, zu Poſa ſagt. Ihre Gaben, ihren Her-
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mißfällt mir: Goethe muß ich anders, natürlich, ſehen: wie
alles. Du weißt, im Leben hab’ ich noch keine Bekanntſchaft
geſucht, als eine, der mehr an mir, als mir an ihr liegen
mußte. Man ſteht ſonſt zu dumm da; was ſollt’ ich Goethen
ſagen. Wenn er ſich’s erinnert, weiß er wie ich ihn liebe;
oder auch nicht: denn dies grade weiß er nicht. Povero vec-
chio! rief Einmal über das andere neulich, in den einfältigen
Stücken, eine Italiänerin neben mir aus, die nicht ein Wort
deutſch verſtand, und der ihr Gemahl, ein ruſſiſcher General,
alles in’s Ohr überſetzte; povero vecchio! wie ein Wucherer
ein ſchönes junges Mädchen nicht bekam, und bekommen ſollte,
Er ſah ihr ſo mitleidig aus. Bedauerlich! wollte ich jetzt auf
Goethe ſagen: das heißt poveretto. Dies fehlt ihm; den
Genuß ſchenkten ihm die Götter nicht; den refüſirte das
Schickſal. Ich habe Unendliches von ihm gehabt. Er nicht
mich. Und ſo laſſ’ ich es denn! Getroſt. Mich dünkt ſo-
gar, es muß Wichtiges im Leben zurückbleiben, Wichtigſtes,
worauf wir einen größten Werth ſetzen; mich dünkt es ſo,
wenn das Leben ſelbſt ſehr wichtig, oder vielmehr wir uns
ſo bleiben ſollen. So hab’ ich es kennen lernen, und erlernt;
dazu hab’ ich Kraft: im Gegentheil bin ich ganz ignorant,
und verſtehe es wahrlich nicht; die größten Menſchen ſind
gewiß die, welche im Vollgelingen des Glückes ergründen,
ſich ausbilden, und Kräfte bekommen: ſolcher bin ich nicht,
und ſolche Starke kenne ich auch nicht: auf ſolches warte ich
nicht, aber ſolche möchte ich noch kennen: ſonſt „acht’ ich
keinen Mann mehr!“ wie Schillers Eliſabeth, ziemlich dumm
und unverſtändlich, zu Poſa ſagt. Ihre Gaben, ihren Her-
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 319. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/327>, abgerufen am 25.11.2024.
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