Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

ich erleben! Eine Tochter Friedrichs. Die Welt kommt noch
so zurück, daß wenn man nicht bald stirbt, so lernt man noch
Richelieu den Ersten kennen, die Schlange; und Adam, und
die ganze erste Societät. --




Ich habe seit einiger Zeit viel über das Lügen nachge-
dacht. Es wirkt doch viel nach außen, und von außen nach
innen. -- Könnten sehr geistreiche, geistvoll ergründende, wahr-
hafte Menschen mit einem starken Karakter das Lügen studi-
ren, und dann wie andere erlernte Dinge mit Fertigkeit aus-
üben, es müßte zu kolossalen Wirkungen führen: der Wahrheit
würde angst und bang, sie stünde ganz klein, als Seufzer,
als regret, als Angeführter in der Welt da, und flüchtete
ganz in die dunkle innere; so reell könnte das Lügen im
Großen, Planmäßigen aufstehn. Große Zeit und fanatische
Anhänger könnten nur schwer dagegen siegen. Meine Meinung
hier ist nur sehr roh vorgetragen: die Klugen werden sie schon
ergänzen. Die Lügner unserer Zeit pfuschen nur, wie groß
sie auch ihr Spiel ausdehnen wollen, sie haben keine Wahr-
heit in der Seele, und haben die Lüge nicht studirt.




Ich muß Ihnen Einiges von unserm gestrigen Abend
erzählen!

T. sagte vom Adel, er komme ihr vor, als ob jetzt je-
mand in den wohlgepflasterten Straßen, in den belebten, han-
delsreichen Städten umhergehn wollte mit Tigerfell und Keule

ich erleben! Eine Tochter Friedrichs. Die Welt kommt noch
ſo zurück, daß wenn man nicht bald ſtirbt, ſo lernt man noch
Richelieu den Erſten kennen, die Schlange; und Adam, und
die ganze erſte Societät. —




Ich habe ſeit einiger Zeit viel über das Lügen nachge-
dacht. Es wirkt doch viel nach außen, und von außen nach
innen. — Könnten ſehr geiſtreiche, geiſtvoll ergründende, wahr-
hafte Menſchen mit einem ſtarken Karakter das Lügen ſtudi-
ren, und dann wie andere erlernte Dinge mit Fertigkeit aus-
üben, es müßte zu koloſſalen Wirkungen führen: der Wahrheit
würde angſt und bang, ſie ſtünde ganz klein, als Seufzer,
als regret, als Angeführter in der Welt da, und flüchtete
ganz in die dunkle innere; ſo reell könnte das Lügen im
Großen, Planmäßigen aufſtehn. Große Zeit und fanatiſche
Anhänger könnten nur ſchwer dagegen ſiegen. Meine Meinung
hier iſt nur ſehr roh vorgetragen: die Klugen werden ſie ſchon
ergänzen. Die Lügner unſerer Zeit pfuſchen nur, wie groß
ſie auch ihr Spiel ausdehnen wollen, ſie haben keine Wahr-
heit in der Seele, und haben die Lüge nicht ſtudirt.




Ich muß Ihnen Einiges von unſerm geſtrigen Abend
erzählen!

T. ſagte vom Adel, er komme ihr vor, als ob jetzt je-
mand in den wohlgepflaſterten Straßen, in den belebten, han-
delsreichen Städten umhergehn wollte mit Tigerfell und Keule

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0270" n="262"/>
ich erleben! Eine Tochter Friedrichs. Die Welt kommt noch<lb/><hi rendition="#g">&#x017F;o</hi> zurück, daß wenn man nicht bald &#x017F;tirbt, &#x017F;o lernt man noch<lb/>
Richelieu den Er&#x017F;ten kennen, die Schlange; und Adam, und<lb/>
die ganze <hi rendition="#g">er&#x017F;te</hi> Societät. &#x2014;</p>
          </div><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <div n="3">
            <dateline> <hi rendition="#et">Wien, den 3. März 1815.</hi> </dateline><lb/>
            <p>Ich habe &#x017F;eit einiger Zeit viel über das Lügen nachge-<lb/>
dacht. Es wirkt doch viel nach außen, und von außen nach<lb/>
innen. &#x2014; Könnten &#x017F;ehr gei&#x017F;treiche, gei&#x017F;tvoll ergründende, wahr-<lb/>
hafte Men&#x017F;chen mit einem &#x017F;tarken Karakter das Lügen &#x017F;tudi-<lb/>
ren, und dann wie andere erlernte Dinge mit Fertigkeit aus-<lb/>
üben, es müßte zu kolo&#x017F;&#x017F;alen Wirkungen führen: der Wahrheit<lb/>
würde ang&#x017F;t und bang, &#x017F;ie &#x017F;tünde ganz klein, als Seufzer,<lb/>
als <hi rendition="#aq">regret,</hi> als Angeführter in der Welt da, und flüchtete<lb/>
ganz in die dunkle innere; &#x017F;o reell könnte das Lügen im<lb/>
Großen, Planmäßigen auf&#x017F;tehn. Große Zeit und fanati&#x017F;che<lb/>
Anhänger könnten nur &#x017F;chwer dagegen &#x017F;iegen. Meine Meinung<lb/>
hier i&#x017F;t nur &#x017F;ehr roh vorgetragen: die Klugen werden &#x017F;ie &#x017F;chon<lb/>
ergänzen. Die Lügner un&#x017F;erer Zeit pfu&#x017F;chen nur, wie groß<lb/>
&#x017F;ie auch ihr Spiel ausdehnen wollen, &#x017F;ie haben keine Wahr-<lb/>
heit in der Seele, und haben die Lüge nicht &#x017F;tudirt.</p>
          </div><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <div n="3">
            <dateline> <hi rendition="#et">Wien 1815.</hi> </dateline><lb/>
            <p>Ich muß Ihnen Einiges von un&#x017F;erm ge&#x017F;trigen Abend<lb/>
erzählen!</p><lb/>
            <p>T. &#x017F;agte vom Adel, er komme ihr vor, als ob jetzt je-<lb/>
mand in den wohlgepfla&#x017F;terten Straßen, in den belebten, han-<lb/>
delsreichen Städten umhergehn wollte mit Tigerfell und Keule<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[262/0270] ich erleben! Eine Tochter Friedrichs. Die Welt kommt noch ſo zurück, daß wenn man nicht bald ſtirbt, ſo lernt man noch Richelieu den Erſten kennen, die Schlange; und Adam, und die ganze erſte Societät. — Wien, den 3. März 1815. Ich habe ſeit einiger Zeit viel über das Lügen nachge- dacht. Es wirkt doch viel nach außen, und von außen nach innen. — Könnten ſehr geiſtreiche, geiſtvoll ergründende, wahr- hafte Menſchen mit einem ſtarken Karakter das Lügen ſtudi- ren, und dann wie andere erlernte Dinge mit Fertigkeit aus- üben, es müßte zu koloſſalen Wirkungen führen: der Wahrheit würde angſt und bang, ſie ſtünde ganz klein, als Seufzer, als regret, als Angeführter in der Welt da, und flüchtete ganz in die dunkle innere; ſo reell könnte das Lügen im Großen, Planmäßigen aufſtehn. Große Zeit und fanatiſche Anhänger könnten nur ſchwer dagegen ſiegen. Meine Meinung hier iſt nur ſehr roh vorgetragen: die Klugen werden ſie ſchon ergänzen. Die Lügner unſerer Zeit pfuſchen nur, wie groß ſie auch ihr Spiel ausdehnen wollen, ſie haben keine Wahr- heit in der Seele, und haben die Lüge nicht ſtudirt. Wien 1815. Ich muß Ihnen Einiges von unſerm geſtrigen Abend erzählen! T. ſagte vom Adel, er komme ihr vor, als ob jetzt je- mand in den wohlgepflaſterten Straßen, in den belebten, han- delsreichen Städten umhergehn wollte mit Tigerfell und Keule

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/270
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 262. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/270>, abgerufen am 25.11.2024.