Sollte Goethe mit Bedacht im Wilhelm Meister alle die- jenigen, denen die Liebe das ganze Leben in sich aufnahm, haben sterben lassen? Sperata, Mariane, Mignon, Aurelie, der Harfenspieler?
Und sollte er die beiden Texte zu dem Buche in dem Buche kennen? die des ganzen Werkes Keim sind, aus dem es nur Goethe's Geist, wie Sonne, hervortrieb? -- die Be- merkung nämlich, "daß jeder Fluß, jeder Berg genommen sei auf der Erde," und dann das, was Meister Aurelien, vor oder nach seiner Verwundung an der Hand, sagt: "O wie sonderbar ist es, daß dem Menschen nicht allein das Unmög- liche, sondern auch so manches Mögliche versagt ist!" Dieses Netz von Witz, in dem uns die Götter hier gefangen halten, in welchem wir errathen, toben, arbeiten, beten müssen, und durchschauen und durchgreifen können. Für möglich halten wir manches; das was nicht ist, ist unmöglich; wenn wir das immer wüßten und dächten, thäten wir nichts; und kein Buch würde wohl geschrieben mit seinen Voraussetzungen, Bildern Beweisen und Erörterungen.
Darum finde ich auch in Goethe's Tasso das tragischeste Ereigniß. Ganz seiner innersten Natur zuwider, muß er sich am Ende an den halten, der ihm das Abscheulichste ist; im Kampfe mit der Seligkeit seines Herzens überwunden, sie fahren lassen; und endlich, um das Vernünftige zu ergreifen, die Seele nach der unnatürlichsten Lage hinrenken; und so das Herz in fremden, rauhen Gehegen ausströmen lassen, wel- ches geboren war, nach seinen selbst erkornen Himmeln zu
Sollte Goethe mit Bedacht im Wilhelm Meiſter alle die- jenigen, denen die Liebe das ganze Leben in ſich aufnahm, haben ſterben laſſen? Sperata, Mariane, Mignon, Aurelie, der Harfenſpieler?
Und ſollte er die beiden Texte zu dem Buche in dem Buche kennen? die des ganzen Werkes Keim ſind, aus dem es nur Goethe’s Geiſt, wie Sonne, hervortrieb? — die Be- merkung nämlich, „daß jeder Fluß, jeder Berg genommen ſei auf der Erde,“ und dann das, was Meiſter Aurelien, vor oder nach ſeiner Verwundung an der Hand, ſagt: „O wie ſonderbar iſt es, daß dem Menſchen nicht allein das Unmög- liche, ſondern auch ſo manches Mögliche verſagt iſt!“ Dieſes Netz von Witz, in dem uns die Götter hier gefangen halten, in welchem wir errathen, toben, arbeiten, beten müſſen, und durchſchauen und durchgreifen können. Für möglich halten wir manches; das was nicht iſt, iſt unmöglich; wenn wir das immer wüßten und dächten, thäten wir nichts; und kein Buch würde wohl geſchrieben mit ſeinen Vorausſetzungen, Bildern Beweiſen und Erörterungen.
Darum finde ich auch in Goethe’s Taſſo das tragiſcheſte Ereigniß. Ganz ſeiner innerſten Natur zuwider, muß er ſich am Ende an den halten, der ihm das Abſcheulichſte iſt; im Kampfe mit der Seligkeit ſeines Herzens überwunden, ſie fahren laſſen; und endlich, um das Vernünftige zu ergreifen, die Seele nach der unnatürlichſten Lage hinrenken; und ſo das Herz in fremden, rauhen Gehegen ausſtrömen laſſen, wel- ches geboren war, nach ſeinen ſelbſt erkornen Himmeln zu
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Sollte Goethe mit Bedacht im Wilhelm Meiſter alle die-
jenigen, denen die Liebe das ganze Leben in ſich aufnahm,
haben ſterben laſſen? Sperata, Mariane, Mignon, Aurelie,
der Harfenſpieler?
Und ſollte er die beiden Texte zu dem Buche in dem
Buche kennen? die des ganzen Werkes Keim ſind, aus dem
es nur Goethe’s Geiſt, wie Sonne, hervortrieb? — die Be-
merkung nämlich, „daß jeder Fluß, jeder Berg genommen ſei
auf der Erde,“ und dann das, was Meiſter Aurelien, vor
oder nach ſeiner Verwundung an der Hand, ſagt: „O wie
ſonderbar iſt es, daß dem Menſchen nicht allein das Unmög-
liche, ſondern auch ſo manches Mögliche verſagt iſt!“ Dieſes
Netz von Witz, in dem uns die Götter hier gefangen halten,
in welchem wir errathen, toben, arbeiten, beten müſſen, und
durchſchauen und durchgreifen können. Für möglich halten
wir manches; das was nicht iſt, iſt unmöglich; wenn wir das
immer wüßten und dächten, thäten wir nichts; und kein Buch
würde wohl geſchrieben mit ſeinen Vorausſetzungen, Bildern
Beweiſen und Erörterungen.
Darum finde ich auch in Goethe’s Taſſo das tragiſcheſte
Ereigniß. Ganz ſeiner innerſten Natur zuwider, muß er ſich
am Ende an den halten, der ihm das Abſcheulichſte iſt; im
Kampfe mit der Seligkeit ſeines Herzens überwunden, ſie
fahren laſſen; und endlich, um das Vernünftige zu ergreifen,
die Seele nach der unnatürlichſten Lage hinrenken; und ſo
das Herz in fremden, rauhen Gehegen ausſtrömen laſſen, wel-
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 190. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/198>, abgerufen am 22.11.2024.
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