Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite
An Fouque, in Nennhausen.

Eine gedehnte Unpäßlichkeit, die mir grad das Schreiben
unmöglich machte, hielt mich ab, Ihnen zu antworten, welches
mich recht peinigte, weil ich mich mehr als je gedrungen dazu
fühlte. Ich bin noch nicht schreibefest, Sie müssen also nach-
sichtig vorlieb nehmen!

Sie haben schon richtig gefühlt und gewählt: ich bin
wohl Ihres Zutrauens werth. Was Sie in Ihrer Seele er-
wägen, und mir die Ehre erzeigen darzulegen, erwäg' ich mit,
und mit einem Ernste, als wäre es für meine eigene Seele:
wie es denn auch ist. Ich fange damit an, mit Ihnen darin
übereinzustimmen, daß die beiden Theile Ihres Briefes ganz
und gar nur zwei Theile eines Ganzen sind, und also gewiß
zusammengehören: nur muß ich, meinem Triebe nach, auf den
zweiten zuerst antworten.

Wie können Sie nur glauben, daß irgend ein Mensch --
nicht "ich" -- wie Sie zu mir sprechen, "eine Kraft, eine
Klarheit" in sich habe, die ihn über "die schrecklichen Ab-
gründe
" empor hielte? er schwebte ja doch nur! und ist das
der forschenden Seele genug? Kann irgend eine Philosophie,
ein Denken, uns über uns -- die Gränze unsers Seins --
hinaus bringen? Müssen wir uns nicht auf Gnade und Un-
gnade ergeben? Einem persönlichen Wesen, von dem uns
das moralische Dasein (ich bin gräßlich von einem Kinde ge-
stört worden, welches seine Lektion bei mir macht!) ganz und

An Fouqué, in Nennhauſen.

Eine gedehnte Unpäßlichkeit, die mir grad das Schreiben
unmöglich machte, hielt mich ab, Ihnen zu antworten, welches
mich recht peinigte, weil ich mich mehr als je gedrungen dazu
fühlte. Ich bin noch nicht ſchreibefeſt, Sie müſſen alſo nach-
ſichtig vorlieb nehmen!

Sie haben ſchon richtig gefühlt und gewählt: ich bin
wohl Ihres Zutrauens werth. Was Sie in Ihrer Seele er-
wägen, und mir die Ehre erzeigen darzulegen, erwäg’ ich mit,
und mit einem Ernſte, als wäre es für meine eigene Seele:
wie es denn auch iſt. Ich fange damit an, mit Ihnen darin
übereinzuſtimmen, daß die beiden Theile Ihres Briefes ganz
und gar nur zwei Theile eines Ganzen ſind, und alſo gewiß
zuſammengehören: nur muß ich, meinem Triebe nach, auf den
zweiten zuerſt antworten.

Wie können Sie nur glauben, daß irgend ein Menſch —
nicht „ich“ — wie Sie zu mir ſprechen, „eine Kraft, eine
Klarheit“ in ſich habe, die ihn über „die ſchrecklichen Ab-
gründe
“ empor hielte? er ſchwebte ja doch nur! und iſt das
der forſchenden Seele genug? Kann irgend eine Philoſophie,
ein Denken, uns über uns — die Gränze unſers Seins —
hinaus bringen? Müſſen wir uns nicht auf Gnade und Un-
gnade ergeben? Einem perſönlichen Weſen, von dem uns
das moraliſche Daſein (ich bin gräßlich von einem Kinde ge-
ſtört worden, welches ſeine Lektion bei mir macht!) ganz und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0596" n="582"/>
        <div n="2">
          <head>An Fouqu<hi rendition="#aq">é</hi>, in Nennhau&#x017F;en.</head><lb/>
          <div n="3">
            <dateline> <hi rendition="#et">Dienstag, den 31. December 1811.</hi> </dateline><lb/>
            <p>Eine gedehnte Unpäßlichkeit, die mir grad das Schreiben<lb/>
unmöglich machte, hielt mich ab, Ihnen zu antworten, welches<lb/>
mich recht peinigte, weil ich mich mehr als je gedrungen dazu<lb/>
fühlte. Ich bin noch nicht &#x017F;chreibefe&#x017F;t, Sie mü&#x017F;&#x017F;en al&#x017F;o nach-<lb/>
&#x017F;ichtig vorlieb nehmen!</p><lb/>
            <p>Sie haben &#x017F;chon richtig gefühlt und gewählt: ich bin<lb/>
wohl Ihres Zutrauens werth. Was Sie in Ihrer Seele er-<lb/>
wägen, und mir die Ehre erzeigen darzulegen, erwäg&#x2019; ich mit,<lb/>
und mit einem Ern&#x017F;te, als wäre es für meine eigene Seele:<lb/>
wie es denn auch i&#x017F;t. Ich fange damit an, mit Ihnen darin<lb/>
übereinzu&#x017F;timmen, daß die beiden Theile Ihres Briefes ganz<lb/>
und gar nur zwei Theile eines Ganzen &#x017F;ind, und al&#x017F;o gewiß<lb/>
zu&#x017F;ammengehören: nur muß ich, meinem Triebe nach, auf den<lb/>
zweiten zuer&#x017F;t antworten.</p><lb/>
            <p>Wie können Sie nur glauben, daß irgend ein Men&#x017F;ch &#x2014;<lb/>
nicht &#x201E;ich&#x201C; &#x2014; wie Sie zu mir &#x017F;prechen, &#x201E;eine Kraft, eine<lb/>
Klarheit&#x201C; in &#x017F;ich habe, die ihn über &#x201E;<hi rendition="#g">die &#x017F;chrecklichen Ab-<lb/>
gründe</hi>&#x201C; empor hielte? er &#x017F;chwebte ja doch nur! und i&#x017F;t das<lb/>
der for&#x017F;chenden Seele genug? Kann irgend eine Philo&#x017F;ophie,<lb/>
ein Denken, uns über uns &#x2014; die Gränze un&#x017F;ers Seins &#x2014;<lb/>
hinaus bringen? Mü&#x017F;&#x017F;en wir uns nicht auf Gnade und Un-<lb/>
gnade ergeben? Einem per&#x017F;önlichen We&#x017F;en, von dem uns<lb/>
das morali&#x017F;che Da&#x017F;ein (ich bin gräßlich von einem Kinde ge-<lb/>
&#x017F;tört worden, welches &#x017F;eine Lektion bei mir macht!) ganz und<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[582/0596] An Fouqué, in Nennhauſen. Dienstag, den 31. December 1811. Eine gedehnte Unpäßlichkeit, die mir grad das Schreiben unmöglich machte, hielt mich ab, Ihnen zu antworten, welches mich recht peinigte, weil ich mich mehr als je gedrungen dazu fühlte. Ich bin noch nicht ſchreibefeſt, Sie müſſen alſo nach- ſichtig vorlieb nehmen! Sie haben ſchon richtig gefühlt und gewählt: ich bin wohl Ihres Zutrauens werth. Was Sie in Ihrer Seele er- wägen, und mir die Ehre erzeigen darzulegen, erwäg’ ich mit, und mit einem Ernſte, als wäre es für meine eigene Seele: wie es denn auch iſt. Ich fange damit an, mit Ihnen darin übereinzuſtimmen, daß die beiden Theile Ihres Briefes ganz und gar nur zwei Theile eines Ganzen ſind, und alſo gewiß zuſammengehören: nur muß ich, meinem Triebe nach, auf den zweiten zuerſt antworten. Wie können Sie nur glauben, daß irgend ein Menſch — nicht „ich“ — wie Sie zu mir ſprechen, „eine Kraft, eine Klarheit“ in ſich habe, die ihn über „die ſchrecklichen Ab- gründe“ empor hielte? er ſchwebte ja doch nur! und iſt das der forſchenden Seele genug? Kann irgend eine Philoſophie, ein Denken, uns über uns — die Gränze unſers Seins — hinaus bringen? Müſſen wir uns nicht auf Gnade und Un- gnade ergeben? Einem perſönlichen Weſen, von dem uns das moraliſche Daſein (ich bin gräßlich von einem Kinde ge- ſtört worden, welches ſeine Lektion bei mir macht!) ganz und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/596
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 582. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/596>, abgerufen am 22.12.2024.