Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

hoffe etc. und war noch dazu den Sommer hier, ohne Nah-
rung für meine Einbildung zu holen: ich hätte Ihnen Wien
nicht verdacht. Neue Städte, neue Orte, sind für nicht Glück-
liche wie das Stellwechseln für Kranke in ihrem Bette: immer
doch für's erste besser; il y a longtems que je professe ce
malheur.
Man gewöhnt sich nur mit einer schielen Seele an
Unnatürliches; graden Gemüthern bleibt eine verrenkte Lage
ewig verhaßt: und so soll's mir auch bleiben. Vor schreien
muß man sich das bis an's Grab, so ist man doch bis da-
hin würdig eines bessern Schicksals gekommen. Wie lange
sage ich Ihnen schon, daß ein arges Ereigniß, ein Ärger
u. dgl. nur die erste Stunde auch mich wirkt: nun wird's
mit Ihnen auch so. Ja, ja! man erfährt alle Tage mehr!
Aber nicht in dem hausbackenen Sinn, wie es die dummen
Leute mit Gedankenlosigkeit und Anmaßung sagen; was man
so, durch ruppige Menschenkenntniß und durch Verstandesein-
sicht, über Fortuna, ihre Gunst, ihre Wahl, die paar Bemer-
kungen über Völkerregierung, über die Bildung der Staaten,
über den ewigen Krieg aller Mißverständnisse und Verkehrt-
heiten unter einander, aus Erfahrung haben kann, das sind
Kinderspielwerke für einen schnellen Kopf. Aber die Horizonte,
die sich in uns selbst einer nach dem andern erhellen, die Ab-
gründe, die man mit Strenge da gewahr wird, vor denen
man umsonst zurückscheut, wo man durch muß; die Gefilde
auch, die Vegetationen, die Reiche, die da erblühen; das sind
die Erfahrungen, die man macht, und wovon geschwiegen
wird! Sie werden mal sehen, was Sie noch alles in sich er-
leben: geben Sie nur Acht; das ist die Kunst! Alle Men-

hoffe ꝛc. und war noch dazu den Sommer hier, ohne Nah-
rung für meine Einbildung zu holen: ich hätte Ihnen Wien
nicht verdacht. Neue Städte, neue Orte, ſind für nicht Glück-
liche wie das Stellwechſeln für Kranke in ihrem Bette: immer
doch für’s erſte beſſer; il y a longtems que je professe ce
malheur.
Man gewöhnt ſich nur mit einer ſchielen Seele an
Unnatürliches; graden Gemüthern bleibt eine verrenkte Lage
ewig verhaßt: und ſo ſoll’s mir auch bleiben. Vor ſchreien
muß man ſich das bis an’s Grab, ſo iſt man doch bis da-
hin würdig eines beſſern Schickſals gekommen. Wie lange
ſage ich Ihnen ſchon, daß ein arges Ereigniß, ein Ärger
u. dgl. nur die erſte Stunde auch mich wirkt: nun wird’s
mit Ihnen auch ſo. Ja, ja! man erfährt alle Tage mehr!
Aber nicht in dem hausbackenen Sinn, wie es die dummen
Leute mit Gedankenloſigkeit und Anmaßung ſagen; was man
ſo, durch ruppige Menſchenkenntniß und durch Verſtandesein-
ſicht, über Fortuna, ihre Gunſt, ihre Wahl, die paar Bemer-
kungen über Völkerregierung, über die Bildung der Staaten,
über den ewigen Krieg aller Mißverſtändniſſe und Verkehrt-
heiten unter einander, aus Erfahrung haben kann, das ſind
Kinderſpielwerke für einen ſchnellen Kopf. Aber die Horizonte,
die ſich in uns ſelbſt einer nach dem andern erhellen, die Ab-
gründe, die man mit Strenge da gewahr wird, vor denen
man umſonſt zurückſcheut, wo man durch muß; die Gefilde
auch, die Vegetationen, die Reiche, die da erblühen; das ſind
die Erfahrungen, die man macht, und wovon geſchwiegen
wird! Sie werden mal ſehen, was Sie noch alles in ſich er-
leben: geben Sie nur Acht; das iſt die Kunſt! Alle Men-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0498" n="484"/>
hoffe &#xA75B;c. und war noch dazu den <hi rendition="#g">Sommer</hi> hier, ohne Nah-<lb/>
rung für meine Einbildung zu holen: ich hätte Ihnen Wien<lb/>
nicht verdacht. Neue Städte, neue Orte, &#x017F;ind für nicht Glück-<lb/>
liche wie das Stellwech&#x017F;eln für Kranke in ihrem Bette: immer<lb/>
doch für&#x2019;s er&#x017F;te be&#x017F;&#x017F;er; <hi rendition="#aq">il y a longtems que je professe ce<lb/>
malheur.</hi> Man gewöhnt &#x017F;ich nur mit einer &#x017F;chielen Seele an<lb/>
Unnatürliches; graden Gemüthern bleibt eine verrenkte Lage<lb/>
ewig verhaßt: und &#x017F;o &#x017F;oll&#x2019;s mir auch bleiben. Vor <hi rendition="#g">&#x017F;chreien</hi><lb/>
muß man &#x017F;ich das bis an&#x2019;s Grab, &#x017F;o i&#x017F;t man doch bis da-<lb/>
hin würdig eines be&#x017F;&#x017F;ern Schick&#x017F;als gekommen. Wie lange<lb/>
&#x017F;age ich Ihnen &#x017F;chon, daß ein arges Ereigniß, ein Ärger<lb/>
u. dgl. nur die er&#x017F;te Stunde auch mich wirkt: nun wird&#x2019;s<lb/>
mit Ihnen auch &#x017F;o. Ja, ja! man erfährt alle Tage mehr!<lb/>
Aber nicht in dem hausbackenen Sinn, wie es die dummen<lb/>
Leute mit Gedankenlo&#x017F;igkeit und Anmaßung &#x017F;agen; was man<lb/>
&#x017F;o, durch ruppige Men&#x017F;chenkenntniß und durch Ver&#x017F;tandesein-<lb/>
&#x017F;icht, über Fortuna, ihre Gun&#x017F;t, ihre Wahl, die paar Bemer-<lb/>
kungen über Völkerregierung, über die Bildung der Staaten,<lb/>
über den ewigen Krieg aller Mißver&#x017F;tändni&#x017F;&#x017F;e und Verkehrt-<lb/>
heiten unter einander, aus Erfahrung haben kann, das &#x017F;ind<lb/>
Kinder&#x017F;pielwerke für einen &#x017F;chnellen Kopf. Aber die Horizonte,<lb/>
die &#x017F;ich in uns &#x017F;elb&#x017F;t einer nach dem andern erhellen, die Ab-<lb/>
gründe, die man mit Strenge da gewahr wird, vor denen<lb/>
man um&#x017F;on&#x017F;t zurück&#x017F;cheut, wo man durch muß; die Gefilde<lb/>
auch, die Vegetationen, die Reiche, die da erblühen; das &#x017F;ind<lb/>
die Erfahrungen, die man macht, und wovon ge&#x017F;chwiegen<lb/>
wird! Sie werden mal &#x017F;ehen, was Sie noch alles in &#x017F;ich er-<lb/>
leben: geben Sie nur Acht; <hi rendition="#g">das</hi> i&#x017F;t die Kun&#x017F;t! Alle Men-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[484/0498] hoffe ꝛc. und war noch dazu den Sommer hier, ohne Nah- rung für meine Einbildung zu holen: ich hätte Ihnen Wien nicht verdacht. Neue Städte, neue Orte, ſind für nicht Glück- liche wie das Stellwechſeln für Kranke in ihrem Bette: immer doch für’s erſte beſſer; il y a longtems que je professe ce malheur. Man gewöhnt ſich nur mit einer ſchielen Seele an Unnatürliches; graden Gemüthern bleibt eine verrenkte Lage ewig verhaßt: und ſo ſoll’s mir auch bleiben. Vor ſchreien muß man ſich das bis an’s Grab, ſo iſt man doch bis da- hin würdig eines beſſern Schickſals gekommen. Wie lange ſage ich Ihnen ſchon, daß ein arges Ereigniß, ein Ärger u. dgl. nur die erſte Stunde auch mich wirkt: nun wird’s mit Ihnen auch ſo. Ja, ja! man erfährt alle Tage mehr! Aber nicht in dem hausbackenen Sinn, wie es die dummen Leute mit Gedankenloſigkeit und Anmaßung ſagen; was man ſo, durch ruppige Menſchenkenntniß und durch Verſtandesein- ſicht, über Fortuna, ihre Gunſt, ihre Wahl, die paar Bemer- kungen über Völkerregierung, über die Bildung der Staaten, über den ewigen Krieg aller Mißverſtändniſſe und Verkehrt- heiten unter einander, aus Erfahrung haben kann, das ſind Kinderſpielwerke für einen ſchnellen Kopf. Aber die Horizonte, die ſich in uns ſelbſt einer nach dem andern erhellen, die Ab- gründe, die man mit Strenge da gewahr wird, vor denen man umſonſt zurückſcheut, wo man durch muß; die Gefilde auch, die Vegetationen, die Reiche, die da erblühen; das ſind die Erfahrungen, die man macht, und wovon geſchwiegen wird! Sie werden mal ſehen, was Sie noch alles in ſich er- leben: geben Sie nur Acht; das iſt die Kunſt! Alle Men-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/498
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 484. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/498>, abgerufen am 22.12.2024.