Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

heit, Gemüth, große Münze; so durch. Kommt das reale
Leben, immer von neuem aus Erde und Wolken, dem einma-
ligen armen Leibe, ihnen nun wirklich vor die Augen, an die
Kehle, so erkennen sie sich und dies Leben nicht, wissen sich
in nichts zu entschließen, verstehn nichts zu behandeln, machen
also, wenn auch nur in bloßer Perplexität des Anstarrens
und Wartens, alles verkehrt; befinden sich schlecht dabei, und
nennen's Unglück. Ja wohl! Bei allen Nationen, wenn sie
untergingen, war gewiß eine solche leere Münze für irgend
ein großes Lebenselement im Gange.




Als ich vorgestern, von R's Briefe wie gespornt, mir sei-
nen Verlauf hinschreiben mußte, konnte ich für den Gedanken,
den ich dabei hatte, daß gewöhnliche Menschen nur das Welt-
gewirre sehen, wie es dasteht, ohne seine Quellen zu ergrün-
den, noch das ewige Walten der Grundlaute und Grundfar-
ben -- ich weiß wieder keinen Ausdruck -- zu gewahren, kei-
nen Ausdruck finden, da fiel mir, wie meist immer, ein Bild
ein, und hohe Musengestalten sah ich wie verkannte Wohl-
thäter und Götter ungesehen umherwandeln: und ich schrieb
Musengestalten; dann brauchte ich das Gewirre der Welt,
welches ich auch sah, und da schrieb ich Weltwirrwarr;
wohl gleich an Goethe denkend! Nachher fiel mir aber erst
ein, daß er, in demselben Gedichte auch eine große Musenge-
stalt brauchte. Ich dachte noch Einmal über das Gedicht,
und verstand es ganz anders! Ich freute mich unendlich, daß
die beiden Ausdrücke mir auch gekommen waren: und konnte

heit, Gemüth, große Münze; ſo durch. Kommt das reale
Leben, immer von neuem aus Erde und Wolken, dem einma-
ligen armen Leibe, ihnen nun wirklich vor die Augen, an die
Kehle, ſo erkennen ſie ſich und dies Leben nicht, wiſſen ſich
in nichts zu entſchließen, verſtehn nichts zu behandeln, machen
alſo, wenn auch nur in bloßer Perplexität des Anſtarrens
und Wartens, alles verkehrt; befinden ſich ſchlecht dabei, und
nennen’s Unglück. Ja wohl! Bei allen Nationen, wenn ſie
untergingen, war gewiß eine ſolche leere Münze für irgend
ein großes Lebenselement im Gange.




Als ich vorgeſtern, von R’s Briefe wie geſpornt, mir ſei-
nen Verlauf hinſchreiben mußte, konnte ich für den Gedanken,
den ich dabei hatte, daß gewöhnliche Menſchen nur das Welt-
gewirre ſehen, wie es daſteht, ohne ſeine Quellen zu ergrün-
den, noch das ewige Walten der Grundlaute und Grundfar-
ben — ich weiß wieder keinen Ausdruck — zu gewahren, kei-
nen Ausdruck finden, da fiel mir, wie meiſt immer, ein Bild
ein, und hohe Muſengeſtalten ſah ich wie verkannte Wohl-
thäter und Götter ungeſehen umherwandeln: und ich ſchrieb
Muſengeſtalten; dann brauchte ich das Gewirre der Welt,
welches ich auch ſah, und da ſchrieb ich Weltwirrwarr;
wohl gleich an Goethe denkend! Nachher fiel mir aber erſt
ein, daß er, in demſelben Gedichte auch eine große Muſenge-
ſtalt brauchte. Ich dachte noch Einmal über das Gedicht,
und verſtand es ganz anders! Ich freute mich unendlich, daß
die beiden Ausdrücke mir auch gekommen waren: und konnte

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0473" n="459"/>
heit, Gemüth, große Münze; &#x017F;o durch. Kommt das reale<lb/>
Leben, immer von neuem aus Erde und Wolken, dem einma-<lb/>
ligen armen Leibe, ihnen nun wirklich vor die Augen, an die<lb/>
Kehle, &#x017F;o erkennen &#x017F;ie &#x017F;ich und dies Leben nicht, wi&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich<lb/>
in nichts zu ent&#x017F;chließen, ver&#x017F;tehn nichts zu behandeln, machen<lb/>
al&#x017F;o, wenn auch nur in bloßer Perplexität des An&#x017F;tarrens<lb/>
und Wartens, alles verkehrt; befinden &#x017F;ich &#x017F;chlecht dabei, und<lb/>
nennen&#x2019;s Unglück. Ja wohl! Bei allen Nationen, wenn &#x017F;ie<lb/>
untergingen, war gewiß eine &#x017F;olche leere Münze für irgend<lb/>
ein großes Lebenselement im Gange.</p>
          </div><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <div n="3">
            <dateline> <hi rendition="#et">Berlin, den 4. Januar 1810.</hi> </dateline><lb/>
            <p>Als ich vorge&#x017F;tern, von R&#x2019;s Briefe wie ge&#x017F;pornt, mir &#x017F;ei-<lb/>
nen Verlauf hin&#x017F;chreiben mußte, konnte ich für den Gedanken,<lb/>
den ich dabei hatte, daß gewöhnliche Men&#x017F;chen nur das Welt-<lb/>
gewirre &#x017F;ehen, wie es da&#x017F;teht, ohne &#x017F;eine Quellen zu ergrün-<lb/>
den, noch das ewige Walten der Grundlaute und Grundfar-<lb/>
ben &#x2014; ich weiß wieder keinen Ausdruck &#x2014; zu gewahren, kei-<lb/>
nen Ausdruck finden, da fiel mir, wie mei&#x017F;t immer, ein Bild<lb/>
ein, und hohe Mu&#x017F;enge&#x017F;talten &#x017F;ah ich wie verkannte Wohl-<lb/>
thäter und Götter unge&#x017F;ehen umherwandeln: und ich &#x017F;chrieb<lb/><hi rendition="#g">Mu&#x017F;enge&#x017F;talten</hi>; dann brauchte ich das Gewirre der Welt,<lb/>
welches ich auch &#x017F;ah, und da &#x017F;chrieb ich <hi rendition="#g">Weltwirrwarr</hi>;<lb/>
wohl gleich an Goethe denkend! Nachher fiel mir aber er&#x017F;t<lb/>
ein, daß er, in dem&#x017F;elben Gedichte auch eine große Mu&#x017F;enge-<lb/>
&#x017F;talt brauchte. Ich dachte noch Einmal über das Gedicht,<lb/>
und ver&#x017F;tand es ganz anders! Ich freute mich unendlich, daß<lb/>
die beiden Ausdrücke mir auch gekommen waren: und konnte<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[459/0473] heit, Gemüth, große Münze; ſo durch. Kommt das reale Leben, immer von neuem aus Erde und Wolken, dem einma- ligen armen Leibe, ihnen nun wirklich vor die Augen, an die Kehle, ſo erkennen ſie ſich und dies Leben nicht, wiſſen ſich in nichts zu entſchließen, verſtehn nichts zu behandeln, machen alſo, wenn auch nur in bloßer Perplexität des Anſtarrens und Wartens, alles verkehrt; befinden ſich ſchlecht dabei, und nennen’s Unglück. Ja wohl! Bei allen Nationen, wenn ſie untergingen, war gewiß eine ſolche leere Münze für irgend ein großes Lebenselement im Gange. Berlin, den 4. Januar 1810. Als ich vorgeſtern, von R’s Briefe wie geſpornt, mir ſei- nen Verlauf hinſchreiben mußte, konnte ich für den Gedanken, den ich dabei hatte, daß gewöhnliche Menſchen nur das Welt- gewirre ſehen, wie es daſteht, ohne ſeine Quellen zu ergrün- den, noch das ewige Walten der Grundlaute und Grundfar- ben — ich weiß wieder keinen Ausdruck — zu gewahren, kei- nen Ausdruck finden, da fiel mir, wie meiſt immer, ein Bild ein, und hohe Muſengeſtalten ſah ich wie verkannte Wohl- thäter und Götter ungeſehen umherwandeln: und ich ſchrieb Muſengeſtalten; dann brauchte ich das Gewirre der Welt, welches ich auch ſah, und da ſchrieb ich Weltwirrwarr; wohl gleich an Goethe denkend! Nachher fiel mir aber erſt ein, daß er, in demſelben Gedichte auch eine große Muſenge- ſtalt brauchte. Ich dachte noch Einmal über das Gedicht, und verſtand es ganz anders! Ich freute mich unendlich, daß die beiden Ausdrücke mir auch gekommen waren: und konnte

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/473
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 459. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/473>, abgerufen am 22.12.2024.