Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

tigkeit derselben heißt nur Leben; und die Freunde müssen und
sollen das Meiste davon haben, genießen, und brauchen. Zwei
Wege stehen mir offen, Ihnen zu schreiben, so wie ich mich
fühle: entweder, mich bei Seite zu legen, und mich zu zwin-
gen, Ihnen von dem zu sprechen, was wir grade vorhaben;
oder, meine Seele vor Ihnen spielen zu lassen wie sie kann,
daß Sie beurtheilen, was dieses Spiel hemmt, treibt, trübt,
und daß Sie am Kaskadenfall noch Lust der Betrachtung fän-
den; das letztere ist unvermerkt schon geschehen; und zeigt sich
überall bei mir leicht, in jeder Wortfügung. Ich kann mich
gar nicht bilden: in nichts! mein tobendes Herz -- in Sanft-
muth
, Liebe, Freude, Schmerz; in allem! -- bildet ja alles
in und an mir: bis zu meinem jedesmaligen Stil im Schrei-
ben. Und kein Fleiß hilft mir; aller kehrt in mich selbst zu-
rück: Gott! was hätte ich für eine Erziehung haben müssen,
wenn ich nur hätte leidlich werden sollen! Sehen Sie, wie
lyrisch, wie auf mich selbst gekehrt, und zurückgeführt durch
alles ich heute sein muß!

Ich habe lange nichts Erfreuliches erlebt, gesehen, ver-
nommen. Auch keinen Himmel, keine Musik; nichts von Kunst;
kein reges Menschengemüth, kein Gespräch von Geist. Habe
viel Arges erlebt. Mit einer Leidenschaft von Schmerz, die
ich jetzt nicht mehr beschreiben kann, meine Mutter sich vier
Monate quälen sehen; und dann vor zwei Monaten ihrem
Tode beigewohnt. Alle Leidenschaft hatte ich schon kurz vor
ihrer Krankheit auf diese Mutter geworfen. Und ihre namen-
lose Gemüthsheiligkeit, wie ihre Fehler, und Mißverständnisse
gegen mich, regten mich gleich auf! Ihr Tod zerriß wahn-

I. 29

tigkeit derſelben heißt nur Leben; und die Freunde müſſen und
ſollen das Meiſte davon haben, genießen, und brauchen. Zwei
Wege ſtehen mir offen, Ihnen zu ſchreiben, ſo wie ich mich
fühle: entweder, mich bei Seite zu legen, und mich zu zwin-
gen, Ihnen von dem zu ſprechen, was wir grade vorhaben;
oder, meine Seele vor Ihnen ſpielen zu laſſen wie ſie kann,
daß Sie beurtheilen, was dieſes Spiel hemmt, treibt, trübt,
und daß Sie am Kaskadenfall noch Luſt der Betrachtung fän-
den; das letztere iſt unvermerkt ſchon geſchehen; und zeigt ſich
überall bei mir leicht, in jeder Wortfügung. Ich kann mich
gar nicht bilden: in nichts! mein tobendes Herz — in Sanft-
muth
, Liebe, Freude, Schmerz; in allem! — bildet ja alles
in und an mir: bis zu meinem jedesmaligen Stil im Schrei-
ben. Und kein Fleiß hilft mir; aller kehrt in mich ſelbſt zu-
rück: Gott! was hätte ich für eine Erziehung haben müſſen,
wenn ich nur hätte leidlich werden ſollen! Sehen Sie, wie
lyriſch, wie auf mich ſelbſt gekehrt, und zurückgeführt durch
alles ich heute ſein muß!

Ich habe lange nichts Erfreuliches erlebt, geſehen, ver-
nommen. Auch keinen Himmel, keine Muſik; nichts von Kunſt;
kein reges Menſchengemüth, kein Geſpräch von Geiſt. Habe
viel Arges erlebt. Mit einer Leidenſchaft von Schmerz, die
ich jetzt nicht mehr beſchreiben kann, meine Mutter ſich vier
Monate quälen ſehen; und dann vor zwei Monaten ihrem
Tode beigewohnt. Alle Leidenſchaft hatte ich ſchon kurz vor
ihrer Krankheit auf dieſe Mutter geworfen. Und ihre namen-
loſe Gemüthsheiligkeit, wie ihre Fehler, und Mißverſtändniſſe
gegen mich, regten mich gleich auf! Ihr Tod zerriß wahn-

I. 29
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0463" n="449"/>
tigkeit der&#x017F;elben heißt nur Leben; und die Freunde mü&#x017F;&#x017F;en und<lb/>
&#x017F;ollen das Mei&#x017F;te davon haben, genießen, und brauchen. Zwei<lb/>
Wege &#x017F;tehen mir offen, Ihnen zu &#x017F;chreiben, &#x017F;o wie ich mich<lb/>
fühle: entweder, mich bei Seite zu legen, und mich zu zwin-<lb/>
gen, Ihnen von dem zu &#x017F;prechen, was wir grade vorhaben;<lb/>
oder, meine Seele vor Ihnen &#x017F;pielen zu la&#x017F;&#x017F;en wie &#x017F;ie kann,<lb/>
daß Sie beurtheilen, was die&#x017F;es Spiel hemmt, treibt, trübt,<lb/>
und daß Sie am Kaskadenfall noch Lu&#x017F;t der Betrachtung fän-<lb/>
den; das letztere i&#x017F;t unvermerkt &#x017F;chon ge&#x017F;chehen; und zeigt &#x017F;ich<lb/>
überall bei mir leicht, in jeder Wortfügung. Ich <hi rendition="#g">kann</hi> mich<lb/>
gar nicht bilden: in nichts! mein tobendes Herz &#x2014; in <hi rendition="#g">Sanft-<lb/>
muth</hi>, Liebe, Freude, Schmerz; in <hi rendition="#g">allem</hi>! &#x2014; bildet ja alles<lb/>
in und an mir: bis zu meinem jedesmaligen Stil im Schrei-<lb/>
ben. Und kein Fleiß hilft mir; aller kehrt in mich &#x017F;elb&#x017F;t zu-<lb/>
rück: Gott! was hätte ich für eine Erziehung haben mü&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
wenn ich nur hätte leidlich werden &#x017F;ollen! Sehen Sie, wie<lb/>
lyri&#x017F;ch, wie auf mich &#x017F;elb&#x017F;t gekehrt, und zurückgeführt durch<lb/>
alles ich heute &#x017F;ein muß!</p><lb/>
          <p>Ich habe lange nichts Erfreuliches erlebt, ge&#x017F;ehen, ver-<lb/>
nommen. Auch keinen Himmel, keine Mu&#x017F;ik; nichts von Kun&#x017F;t;<lb/>
kein reges Men&#x017F;chengemüth, kein Ge&#x017F;präch von Gei&#x017F;t. Habe<lb/>
viel Arges erlebt. Mit einer Leiden&#x017F;chaft von Schmerz, die<lb/>
ich jetzt nicht mehr be&#x017F;chreiben kann, meine Mutter &#x017F;ich vier<lb/>
Monate quälen &#x017F;ehen; und dann vor zwei Monaten ihrem<lb/>
Tode beigewohnt. Alle Leiden&#x017F;chaft hatte ich &#x017F;chon kurz vor<lb/>
ihrer Krankheit auf die&#x017F;e Mutter geworfen. Und ihre namen-<lb/>
lo&#x017F;e Gemüthsheiligkeit, wie ihre Fehler, und Mißver&#x017F;tändni&#x017F;&#x017F;e<lb/>
gegen mich, regten mich gleich auf! Ihr Tod zerriß wahn-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#aq">I.</hi> 29</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[449/0463] tigkeit derſelben heißt nur Leben; und die Freunde müſſen und ſollen das Meiſte davon haben, genießen, und brauchen. Zwei Wege ſtehen mir offen, Ihnen zu ſchreiben, ſo wie ich mich fühle: entweder, mich bei Seite zu legen, und mich zu zwin- gen, Ihnen von dem zu ſprechen, was wir grade vorhaben; oder, meine Seele vor Ihnen ſpielen zu laſſen wie ſie kann, daß Sie beurtheilen, was dieſes Spiel hemmt, treibt, trübt, und daß Sie am Kaskadenfall noch Luſt der Betrachtung fän- den; das letztere iſt unvermerkt ſchon geſchehen; und zeigt ſich überall bei mir leicht, in jeder Wortfügung. Ich kann mich gar nicht bilden: in nichts! mein tobendes Herz — in Sanft- muth, Liebe, Freude, Schmerz; in allem! — bildet ja alles in und an mir: bis zu meinem jedesmaligen Stil im Schrei- ben. Und kein Fleiß hilft mir; aller kehrt in mich ſelbſt zu- rück: Gott! was hätte ich für eine Erziehung haben müſſen, wenn ich nur hätte leidlich werden ſollen! Sehen Sie, wie lyriſch, wie auf mich ſelbſt gekehrt, und zurückgeführt durch alles ich heute ſein muß! Ich habe lange nichts Erfreuliches erlebt, geſehen, ver- nommen. Auch keinen Himmel, keine Muſik; nichts von Kunſt; kein reges Menſchengemüth, kein Geſpräch von Geiſt. Habe viel Arges erlebt. Mit einer Leidenſchaft von Schmerz, die ich jetzt nicht mehr beſchreiben kann, meine Mutter ſich vier Monate quälen ſehen; und dann vor zwei Monaten ihrem Tode beigewohnt. Alle Leidenſchaft hatte ich ſchon kurz vor ihrer Krankheit auf dieſe Mutter geworfen. Und ihre namen- loſe Gemüthsheiligkeit, wie ihre Fehler, und Mißverſtändniſſe gegen mich, regten mich gleich auf! Ihr Tod zerriß wahn- I. 29

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/463
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 449. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/463>, abgerufen am 22.12.2024.