freundlicher Mann, traf mich Ihr Schreiben. Ich die das zäheste Leben in sich trägt, war bis zum Ennuyiren ver- nichtet -- alle andere Seelenzustände war ich durchgegangen. Aus diesem Opiumszustand bin ich nun freilich scheinbar, wenn auch in der Wirklichkeit nicht, durch tausend andere Hetzen gekommen: durch den Frühling und durch die bittere Über- zeugung in der Verzweiflung selbst. Was mir ist? daß ich noch nie gefehlt habe; noch nie leichtsinnig oder eigennützig handelte, und mich doch aus dem immer sich fort, und neu entwicklenden Unglück meiner falschen Geburt nicht hervorzu- wälzen vermag. Dies sind wenige, leicht und bald auszuspre- chende Worte; aber es sind die Bogen, worauf mein ganzes Leben hindurch die schmerzlichsten, giftigsten Pfeile abgedrückt sind. Fest stehen sie die Bogen, aus ihrer Richtung führt mich keine Kunst, -- keine Überlegung, keine Anstrengung, kein Fleiß, keine Unterwerfung. Das Glück, das große, wen- det mir ganz den Rücken. In dieser Attitüde findet mich ein jeder: und nie war Einer über-edel genug, um mich wie eine Glückliche zu behandlen: die fordern darf, und der man lei- stet. Jedes menschliche Verhältniß ist mir mißglückt. Meine Einsicht über mich ganz geschärft: aber meine Herzensfasern zu schwach. Ich folge ihr nicht, der Einsicht. Menschen lok- ken, rühren, und reizen mich. -- Niemand; kein Dichter, kein Philosoph keiner Zeit, sieht sie mehr durch als ich: und um mit ihnen wirklich, in der That umzugehen, muß man sich doch immer einsetzen: sonst trat man ihnen ja in der Wirk- lichkeit nicht nah, vertrauen muß man sich doch, sonst handelt man, aber lebt nicht. Auch bin ich kein alberner Misanthrop!
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freundlicher Mann, traf mich Ihr Schreiben. Ich die das zäheſte Leben in ſich trägt, war bis zum Ennuyiren ver- nichtet — alle andere Seelenzuſtände war ich durchgegangen. Aus dieſem Opiumszuſtand bin ich nun freilich ſcheinbar, wenn auch in der Wirklichkeit nicht, durch tauſend andere Hetzen gekommen: durch den Frühling und durch die bittere Über- zeugung in der Verzweiflung ſelbſt. Was mir iſt? daß ich noch nie gefehlt habe; noch nie leichtſinnig oder eigennützig handelte, und mich doch aus dem immer ſich fort, und neu entwicklenden Unglück meiner falſchen Geburt nicht hervorzu- wälzen vermag. Dies ſind wenige, leicht und bald auszuſpre- chende Worte; aber es ſind die Bogen, worauf mein ganzes Leben hindurch die ſchmerzlichſten, giftigſten Pfeile abgedrückt ſind. Feſt ſtehen ſie die Bogen, aus ihrer Richtung führt mich keine Kunſt, — keine Überlegung, keine Anſtrengung, kein Fleiß, keine Unterwerfung. Das Glück, das große, wen- det mir ganz den Rücken. In dieſer Attitüde findet mich ein jeder: und nie war Einer über-edel genug, um mich wie eine Glückliche zu behandlen: die fordern darf, und der man lei- ſtet. Jedes menſchliche Verhältniß iſt mir mißglückt. Meine Einſicht über mich ganz geſchärft: aber meine Herzensfaſern zu ſchwach. Ich folge ihr nicht, der Einſicht. Menſchen lok- ken, rühren, und reizen mich. — Niemand; kein Dichter, kein Philoſoph keiner Zeit, ſieht ſie mehr durch als ich: und um mit ihnen wirklich, in der That umzugehen, muß man ſich doch immer einſetzen: ſonſt trat man ihnen ja in der Wirk- lichkeit nicht nah, vertrauen muß man ſich doch, ſonſt handelt man, aber lebt nicht. Auch bin ich kein alberner Miſanthrop!
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freundlicher Mann, traf mich Ihr Schreiben. Ich die das
zäheſte Leben in ſich trägt, war bis zum Ennuyiren ver-
nichtet — alle andere Seelenzuſtände war ich durchgegangen.
Aus dieſem Opiumszuſtand bin ich nun freilich ſcheinbar, wenn
auch in der Wirklichkeit nicht, durch tauſend andere Hetzen
gekommen: durch den Frühling und durch die bittere Über-
zeugung in der Verzweiflung ſelbſt. Was mir iſt? daß ich
noch nie gefehlt habe; noch nie leichtſinnig oder eigennützig
handelte, und mich doch aus dem immer ſich fort, und neu
entwicklenden Unglück meiner falſchen Geburt nicht hervorzu-
wälzen vermag. Dies ſind wenige, leicht und bald auszuſpre-
chende Worte; aber es ſind die Bogen, worauf mein ganzes
Leben hindurch die ſchmerzlichſten, giftigſten Pfeile abgedrückt
ſind. Feſt ſtehen ſie die Bogen, aus ihrer Richtung führt
mich keine Kunſt, — keine Überlegung, keine Anſtrengung,
kein Fleiß, keine Unterwerfung. Das Glück, das große, wen-
det mir ganz den Rücken. In dieſer Attitüde findet mich ein
jeder: und nie war Einer über-edel genug, um mich wie eine
Glückliche zu behandlen: die fordern darf, und der man lei-
ſtet. Jedes menſchliche Verhältniß iſt mir mißglückt. Meine
Einſicht über mich ganz geſchärft: aber meine Herzensfaſern
zu ſchwach. Ich folge ihr nicht, der Einſicht. Menſchen lok-
ken, rühren, und reizen mich. — Niemand; kein Dichter, kein
Philoſoph keiner Zeit, ſieht ſie mehr durch als ich: und um
mit ihnen wirklich, in der That umzugehen, muß man ſich
doch immer einſetzen: ſonſt trat man ihnen ja in der Wirk-
lichkeit nicht nah, vertrauen muß man ſich doch, ſonſt handelt
man, aber lebt nicht. Auch bin ich kein alberner Miſanthrop!
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 435. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/449>, abgerufen am 24.11.2024.
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