Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

freundlicher Mann, traf mich Ihr Schreiben. Ich die das
zäheste Leben in sich trägt, war bis zum Ennuyiren ver-
nichtet -- alle andere Seelenzustände war ich durchgegangen.
Aus diesem Opiumszustand bin ich nun freilich scheinbar, wenn
auch in der Wirklichkeit nicht, durch tausend andere Hetzen
gekommen: durch den Frühling und durch die bittere Über-
zeugung in der Verzweiflung selbst. Was mir ist? daß ich
noch nie gefehlt habe; noch nie leichtsinnig oder eigennützig
handelte, und mich doch aus dem immer sich fort, und neu
entwicklenden Unglück meiner falschen Geburt nicht hervorzu-
wälzen vermag. Dies sind wenige, leicht und bald auszuspre-
chende Worte; aber es sind die Bogen, worauf mein ganzes
Leben hindurch die schmerzlichsten, giftigsten Pfeile abgedrückt
sind. Fest stehen sie die Bogen, aus ihrer Richtung führt
mich keine Kunst, -- keine Überlegung, keine Anstrengung,
kein Fleiß, keine Unterwerfung. Das Glück, das große, wen-
det mir ganz den Rücken. In dieser Attitüde findet mich ein
jeder: und nie war Einer über-edel genug, um mich wie eine
Glückliche zu behandlen: die fordern darf, und der man lei-
stet. Jedes menschliche Verhältniß ist mir mißglückt. Meine
Einsicht über mich ganz geschärft: aber meine Herzensfasern
zu schwach. Ich folge ihr nicht, der Einsicht. Menschen lok-
ken, rühren, und reizen mich. -- Niemand; kein Dichter, kein
Philosoph keiner Zeit, sieht sie mehr durch als ich: und um
mit ihnen wirklich, in der That umzugehen, muß man sich
doch immer einsetzen: sonst trat man ihnen ja in der Wirk-
lichkeit nicht nah, vertrauen muß man sich doch, sonst handelt
man, aber lebt nicht. Auch bin ich kein alberner Misanthrop!

28 *

freundlicher Mann, traf mich Ihr Schreiben. Ich die das
zäheſte Leben in ſich trägt, war bis zum Ennuyiren ver-
nichtet — alle andere Seelenzuſtände war ich durchgegangen.
Aus dieſem Opiumszuſtand bin ich nun freilich ſcheinbar, wenn
auch in der Wirklichkeit nicht, durch tauſend andere Hetzen
gekommen: durch den Frühling und durch die bittere Über-
zeugung in der Verzweiflung ſelbſt. Was mir iſt? daß ich
noch nie gefehlt habe; noch nie leichtſinnig oder eigennützig
handelte, und mich doch aus dem immer ſich fort, und neu
entwicklenden Unglück meiner falſchen Geburt nicht hervorzu-
wälzen vermag. Dies ſind wenige, leicht und bald auszuſpre-
chende Worte; aber es ſind die Bogen, worauf mein ganzes
Leben hindurch die ſchmerzlichſten, giftigſten Pfeile abgedrückt
ſind. Feſt ſtehen ſie die Bogen, aus ihrer Richtung führt
mich keine Kunſt, — keine Überlegung, keine Anſtrengung,
kein Fleiß, keine Unterwerfung. Das Glück, das große, wen-
det mir ganz den Rücken. In dieſer Attitüde findet mich ein
jeder: und nie war Einer über-edel genug, um mich wie eine
Glückliche zu behandlen: die fordern darf, und der man lei-
ſtet. Jedes menſchliche Verhältniß iſt mir mißglückt. Meine
Einſicht über mich ganz geſchärft: aber meine Herzensfaſern
zu ſchwach. Ich folge ihr nicht, der Einſicht. Menſchen lok-
ken, rühren, und reizen mich. — Niemand; kein Dichter, kein
Philoſoph keiner Zeit, ſieht ſie mehr durch als ich: und um
mit ihnen wirklich, in der That umzugehen, muß man ſich
doch immer einſetzen: ſonſt trat man ihnen ja in der Wirk-
lichkeit nicht nah, vertrauen muß man ſich doch, ſonſt handelt
man, aber lebt nicht. Auch bin ich kein alberner Miſanthrop!

28 *
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0449" n="435"/>
freundlicher Mann, traf mich Ihr Schreiben. Ich die das<lb/>
zähe&#x017F;te Leben in &#x017F;ich trägt, war bis zum <hi rendition="#g">Ennuyiren</hi> ver-<lb/>
nichtet &#x2014; alle andere Seelenzu&#x017F;tände war ich durchgegangen.<lb/>
Aus die&#x017F;em Opiumszu&#x017F;tand bin ich nun freilich &#x017F;cheinbar, wenn<lb/>
auch in der Wirklichkeit nicht, durch tau&#x017F;end andere Hetzen<lb/>
gekommen: durch den Frühling und durch die bittere Über-<lb/>
zeugung in der Verzweiflung &#x017F;elb&#x017F;t. Was mir i&#x017F;t? daß ich<lb/>
noch nie gefehlt habe; noch nie leicht&#x017F;innig oder eigennützig<lb/>
handelte, und mich doch aus dem immer &#x017F;ich fort, und neu<lb/>
entwicklenden Unglück meiner fal&#x017F;chen Geburt nicht hervorzu-<lb/>
wälzen vermag. Dies &#x017F;ind wenige, leicht und bald auszu&#x017F;pre-<lb/>
chende Worte; aber es &#x017F;ind die Bogen, worauf mein ganzes<lb/>
Leben hindurch die &#x017F;chmerzlich&#x017F;ten, giftig&#x017F;ten Pfeile abgedrückt<lb/>
&#x017F;ind. Fe&#x017F;t &#x017F;tehen &#x017F;ie die Bogen, aus ihrer Richtung führt<lb/>
mich keine Kun&#x017F;t, &#x2014; keine Überlegung, keine An&#x017F;trengung,<lb/>
kein Fleiß, keine Unterwerfung. Das Glück, das große, wen-<lb/>
det mir ganz den Rücken. In die&#x017F;er Attitüde findet mich ein<lb/>
jeder: und nie war Einer über-edel genug, um mich wie eine<lb/>
Glückliche zu behandlen: die fordern darf, und der man lei-<lb/>
&#x017F;tet. Jedes men&#x017F;chliche Verhältniß i&#x017F;t mir mißglückt. Meine<lb/>
Ein&#x017F;icht über mich ganz ge&#x017F;chärft: aber meine Herzensfa&#x017F;ern<lb/>
zu &#x017F;chwach. Ich folge ihr nicht, der Ein&#x017F;icht. Men&#x017F;chen lok-<lb/>
ken, rühren, und reizen mich. &#x2014; Niemand; kein Dichter, kein<lb/>
Philo&#x017F;oph keiner Zeit, &#x017F;ieht &#x017F;ie mehr durch als ich: und um<lb/>
mit ihnen <hi rendition="#g">wirklich</hi>, in der <hi rendition="#g">That</hi> umzugehen, muß man &#x017F;ich<lb/>
doch immer ein&#x017F;etzen: &#x017F;on&#x017F;t trat man ihnen ja in der Wirk-<lb/>
lichkeit nicht nah, vertrauen muß man &#x017F;ich doch, &#x017F;on&#x017F;t handelt<lb/>
man, aber lebt nicht. Auch bin ich kein alberner Mi&#x017F;anthrop!<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">28 *</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[435/0449] freundlicher Mann, traf mich Ihr Schreiben. Ich die das zäheſte Leben in ſich trägt, war bis zum Ennuyiren ver- nichtet — alle andere Seelenzuſtände war ich durchgegangen. Aus dieſem Opiumszuſtand bin ich nun freilich ſcheinbar, wenn auch in der Wirklichkeit nicht, durch tauſend andere Hetzen gekommen: durch den Frühling und durch die bittere Über- zeugung in der Verzweiflung ſelbſt. Was mir iſt? daß ich noch nie gefehlt habe; noch nie leichtſinnig oder eigennützig handelte, und mich doch aus dem immer ſich fort, und neu entwicklenden Unglück meiner falſchen Geburt nicht hervorzu- wälzen vermag. Dies ſind wenige, leicht und bald auszuſpre- chende Worte; aber es ſind die Bogen, worauf mein ganzes Leben hindurch die ſchmerzlichſten, giftigſten Pfeile abgedrückt ſind. Feſt ſtehen ſie die Bogen, aus ihrer Richtung führt mich keine Kunſt, — keine Überlegung, keine Anſtrengung, kein Fleiß, keine Unterwerfung. Das Glück, das große, wen- det mir ganz den Rücken. In dieſer Attitüde findet mich ein jeder: und nie war Einer über-edel genug, um mich wie eine Glückliche zu behandlen: die fordern darf, und der man lei- ſtet. Jedes menſchliche Verhältniß iſt mir mißglückt. Meine Einſicht über mich ganz geſchärft: aber meine Herzensfaſern zu ſchwach. Ich folge ihr nicht, der Einſicht. Menſchen lok- ken, rühren, und reizen mich. — Niemand; kein Dichter, kein Philoſoph keiner Zeit, ſieht ſie mehr durch als ich: und um mit ihnen wirklich, in der That umzugehen, muß man ſich doch immer einſetzen: ſonſt trat man ihnen ja in der Wirk- lichkeit nicht nah, vertrauen muß man ſich doch, ſonſt handelt man, aber lebt nicht. Auch bin ich kein alberner Miſanthrop! 28 *

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/449
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 435. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/449>, abgerufen am 24.11.2024.