wischt bin ich dann, wie der Prinz und Gualtieri. Und nie- mand kann mir dann wohlthun; mit dem stärksten Willen, mit der Ausübung der Verzweiflung nicht: dieser Gedanke an dich, über mich, war es, der mich endlich rührte. Ich habe es dir ziemlich schreiben können: ich dachte es doch noch ganz anders; aber ich nahm mir fest vor, es dir zu schreiben; wenn es dich auch martert. Ich lebe ja, und liebe dich. Ja Varn- hagen, meine Liebe war hart: überlege es dir. Auf Seligkeit nicht, weil es meine war, und jeder eine solche Liebhaberei an seiner haben muß, eben weil er sie kennt. Aber du sollst sie wo möglich sehen, ihre Gänge nachspüren, denn selten ist so viel Kraft und so viel Schmerz, und diese Unbefangenheit! denn welche Entwicklung ging in jedem Sinn dabei in mir vor: wem diente, und wen kannte ich nicht dabei, was wußte ich nicht! Kurz, du sollst es wissen, weil es reich und sonderbar war; und ich eine Seele haben will, ein menschlich Wrsen! -- Über die Darstellung der Gegenden denke ich bei weitem an- ders, als du! Sie darzustellen, oder sie beschreiben, ist schon ein unendlicher Unterschied, und bald muß ein Dichter das eine, bald das andere. Du z. B. hast in deinem Dresdener Briefe die Brücke ganz göttlich beschreiben, und willst du je in einem Gedicht eine Beschreibung, so brauchst du nie eine bessere zu machen. Goethe aber z. B. hat durch seinen ganzen Hermann und Dorothea durch -- ohne daß Einer so gütig ist, daran zu denken -- von der ersten Zeile bis zur letzten, so genau eine Gegend, einen Tag, und sein ganzes Wetter und Schrei- ten dargestellt, daß er ein Element seines Gedichts ist, und wie ein wahrer Tag, eine wahre Gegend, es machen hilft. Das
wiſcht bin ich dann, wie der Prinz und Gualtieri. Und nie- mand kann mir dann wohlthun; mit dem ſtärkſten Willen, mit der Ausübung der Verzweiflung nicht: dieſer Gedanke an dich, über mich, war es, der mich endlich rührte. Ich habe es dir ziemlich ſchreiben können: ich dachte es doch noch ganz anders; aber ich nahm mir feſt vor, es dir zu ſchreiben; wenn es dich auch martert. Ich lebe ja, und liebe dich. Ja Varn- hagen, meine Liebe war hart: überlege es dir. Auf Seligkeit nicht, weil es meine war, und jeder eine ſolche Liebhaberei an ſeiner haben muß, eben weil er ſie kennt. Aber du ſollſt ſie wo möglich ſehen, ihre Gänge nachſpüren, denn ſelten iſt ſo viel Kraft und ſo viel Schmerz, und dieſe Unbefangenheit! denn welche Entwicklung ging in jedem Sinn dabei in mir vor: wem diente, und wen kannte ich nicht dabei, was wußte ich nicht! Kurz, du ſollſt es wiſſen, weil es reich und ſonderbar war; und ich eine Seele haben will, ein menſchlich Wrſen! — Über die Darſtellung der Gegenden denke ich bei weitem an- ders, als du! Sie darzuſtellen, oder ſie beſchreiben, iſt ſchon ein unendlicher Unterſchied, und bald muß ein Dichter das eine, bald das andere. Du z. B. haſt in deinem Dresdener Briefe die Brücke ganz göttlich beſchreiben, und willſt du je in einem Gedicht eine Beſchreibung, ſo brauchſt du nie eine beſſere zu machen. Goethe aber z. B. hat durch ſeinen ganzen Hermann und Dorothea durch — ohne daß Einer ſo gütig iſt, daran zu denken — von der erſten Zeile bis zur letzten, ſo genau eine Gegend, einen Tag, und ſein ganzes Wetter und Schrei- ten dargeſtellt, daß er ein Element ſeines Gedichts iſt, und wie ein wahrer Tag, eine wahre Gegend, es machen hilft. Das
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wiſcht bin ich dann, wie der Prinz und Gualtieri. Und nie-
mand kann mir dann wohlthun; mit dem ſtärkſten Willen,
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dich, über mich, war es, der mich endlich rührte. Ich habe
es dir ziemlich ſchreiben können: ich dachte es doch noch ganz
anders; aber ich nahm mir feſt vor, es dir zu ſchreiben; wenn
es dich auch martert. Ich lebe ja, und liebe dich. Ja Varn-
hagen, meine Liebe war hart: überlege es dir. Auf Seligkeit
nicht, weil es meine war, und jeder eine ſolche Liebhaberei
an ſeiner haben muß, eben weil er ſie kennt. Aber du ſollſt
ſie wo möglich ſehen, ihre Gänge nachſpüren, denn ſelten iſt
ſo viel Kraft und ſo viel Schmerz, und dieſe Unbefangenheit!
denn welche Entwicklung ging in jedem Sinn dabei in mir
vor: wem diente, und wen kannte ich nicht dabei, was wußte
ich nicht! Kurz, du ſollſt es wiſſen, weil es reich und ſonderbar
war; und ich eine Seele haben will, ein menſchlich Wrſen! —
Über die Darſtellung der Gegenden denke ich bei weitem an-
ders, als du! Sie darzuſtellen, oder ſie beſchreiben, iſt ſchon
ein unendlicher Unterſchied, und bald muß ein Dichter das eine,
bald das andere. Du z. B. haſt in deinem Dresdener Briefe
die Brücke ganz göttlich beſchreiben, und willſt du je in einem
Gedicht eine Beſchreibung, ſo brauchſt du nie eine beſſere zu
machen. Goethe aber z. B. hat durch ſeinen ganzen Hermann
und Dorothea durch — ohne daß Einer ſo gütig iſt, daran
zu denken — von der erſten Zeile bis zur letzten, ſo genau
eine Gegend, einen Tag, und ſein ganzes Wetter und Schrei-
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 366. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/380>, abgerufen am 22.12.2024.
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