Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

die Fähigkeit, und das Recht, sich zu propagiren, haben sie
auch; und schon das Gute, welches man einem Menschen
angedeihen läßt, ist unberechenbar. Nur wünsche ich, man
möge ihnen wahrhaft nützen können: bis jetzt gelang dies
noch mit dieser zerrissenen, verwahrlosten, und noch mehr als
alles dies verdient verachteten Nation nicht!

Glaube nicht, Rose, daß mich irgend eine Trägheit oder
Rücksicht abhalten kann, an D. zu schreiben, als die tiefste
und gründlichste Überzeugung, daß er sich gar nichts aus mir
macht: und ich höchstens ihm en personne, ihm gegenüber
stehend, ein Achthaben auf mich abdrängen könnte. Du
irrst, alte Rose! und verwechselst mein tiefes Eindringen in
die Gemüther der Menschen, und mein schnelles Auffassen
ihrer Eigenheiten, mit dem Eindruck, welchen ich auf die Men-
schen mache. Ich versichere dich, ich bin belehrt worden, daß
er über negativ weg steht; und ordentlich nicht gut zu
nennen ist. Auch ich war lange unschuldig darin; und glaubte,
harmlos wie ich bin, und bis zur Feigheit nachgiebig, wären
sie mir gut; indeß sie mich nur gebrauchten: der
Mensch will gereizt sein; so bin ich selbst; aber gar nicht
reizend
. Bewunderns würdiges und Rührendes giebt
es wenig; und noch Wenigere, die gerührt werden können,
oder zu verehren verstünden. -- Laß den Zorn gegen Ludwig
sinken; und bedenke, daß alle Levin's sehr nachlässig sind; --
ich begreife, daß nach einem freundlich innigen Zusammensein
solches Schweigen empört; und auch ich war schon oft gegen
jeden zornig -- bin wie Polonius im Hamlet, der immer klug
predigt, und dumm handelt. -- Ich wollte aber gern, ihr ge-

die Fähigkeit, und das Recht, ſich zu propagiren, haben ſie
auch; und ſchon das Gute, welches man einem Menſchen
angedeihen läßt, iſt unberechenbar. Nur wünſche ich, man
möge ihnen wahrhaft nützen können: bis jetzt gelang dies
noch mit dieſer zerriſſenen, verwahrloſten, und noch mehr als
alles dies verdient verachteten Nation nicht!

Glaube nicht, Roſe, daß mich irgend eine Trägheit oder
Rückſicht abhalten kann, an D. zu ſchreiben, als die tiefſte
und gründlichſte Überzeugung, daß er ſich gar nichts aus mir
macht: und ich höchſtens ihm en personne, ihm gegenüber
ſtehend, ein Achthaben auf mich abdrängen könnte. Du
irrſt, alte Roſe! und verwechſelſt mein tiefes Eindringen in
die Gemüther der Menſchen, und mein ſchnelles Auffaſſen
ihrer Eigenheiten, mit dem Eindruck, welchen ich auf die Men-
ſchen mache. Ich verſichere dich, ich bin belehrt worden, daß
er über negativ weg ſteht; und ordentlich nicht gut zu
nennen iſt. Auch ich war lange unſchuldig darin; und glaubte,
harmlos wie ich bin, und bis zur Feigheit nachgiebig, wären
ſie mir gut; indeß ſie mich nur gebrauchten: der
Menſch will gereizt ſein; ſo bin ich ſelbſt; aber gar nicht
reizend
. Bewunderns würdiges und Rührendes giebt
es wenig; und noch Wenigere, die gerührt werden können,
oder zu verehren verſtünden. — Laß den Zorn gegen Ludwig
ſinken; und bedenke, daß alle Levin’s ſehr nachläſſig ſind; —
ich begreife, daß nach einem freundlich innigen Zuſammenſein
ſolches Schweigen empört; und auch ich war ſchon oft gegen
jeden zornig — bin wie Polonius im Hamlet, der immer klug
predigt, und dumm handelt. — Ich wollte aber gern, ihr ge-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0311" n="297"/>
die Fähigkeit, und das Recht, &#x017F;ich zu propagiren, haben &#x017F;ie<lb/>
auch; und &#x017F;chon das Gute, welches man <hi rendition="#g">einem</hi> Men&#x017F;chen<lb/>
angedeihen läßt, i&#x017F;t unberechenbar. Nur wün&#x017F;che ich, man<lb/>
möge ihnen wahrhaft nützen können: bis jetzt gelang dies<lb/>
noch mit die&#x017F;er zerri&#x017F;&#x017F;enen, verwahrlo&#x017F;ten, und noch mehr als<lb/>
alles dies verdient verachteten Nation nicht!</p><lb/>
            <p>Glaube nicht, Ro&#x017F;e, daß mich irgend eine Trägheit oder<lb/>
Rück&#x017F;icht abhalten kann, an D. zu &#x017F;chreiben, als die tief&#x017F;te<lb/>
und gründlich&#x017F;te Überzeugung, daß er &#x017F;ich gar nichts aus mir<lb/>
macht: und ich höch&#x017F;tens ihm <hi rendition="#aq">en personne,</hi> ihm <hi rendition="#g">gegenüber</hi><lb/>
&#x017F;tehend, ein Achthaben auf mich <hi rendition="#g">abdrängen</hi> könnte. Du<lb/>
irr&#x017F;t, alte Ro&#x017F;e! und verwech&#x017F;el&#x017F;t mein tiefes Eindringen in<lb/>
die Gemüther der Men&#x017F;chen, und mein &#x017F;chnelles Auffa&#x017F;&#x017F;en<lb/>
ihrer Eigenheiten, mit dem Eindruck, welchen <hi rendition="#g">ich</hi> auf die Men-<lb/>
&#x017F;chen mache. Ich ver&#x017F;ichere dich, ich bin belehrt worden, daß<lb/>
er über <hi rendition="#g">negativ</hi> weg &#x017F;teht; und ordentlich <hi rendition="#g">nicht</hi> gut zu<lb/>
nennen i&#x017F;t. Auch ich war lange un&#x017F;chuldig darin; und glaubte,<lb/>
harmlos wie ich bin, und bis zur Feigheit nachgiebig, wären<lb/>
&#x017F;ie mir <hi rendition="#g">gut; indeß &#x017F;ie mich nur gebrauchten</hi>: der<lb/><hi rendition="#g">Men&#x017F;ch</hi> will <hi rendition="#g">gereizt</hi> &#x017F;ein; &#x017F;o bin ich &#x017F;elb&#x017F;t; aber <hi rendition="#g">gar nicht<lb/>
reizend</hi>. Bewunderns <hi rendition="#g">würdiges</hi> und <hi rendition="#g">Rührendes</hi> giebt<lb/>
es wenig; und <hi rendition="#g">noch</hi> Wenigere, die gerührt werden können,<lb/>
oder zu verehren ver&#x017F;tünden. &#x2014; Laß den Zorn gegen Ludwig<lb/>
&#x017F;inken; und bedenke, daß alle Levin&#x2019;s &#x017F;ehr nachlä&#x017F;&#x017F;ig &#x017F;ind; &#x2014;<lb/>
ich begreife, daß nach einem freundlich innigen Zu&#x017F;ammen&#x017F;ein<lb/>
&#x017F;olches Schweigen empört; und auch ich war &#x017F;chon oft gegen<lb/>
jeden zornig &#x2014; bin wie Polonius im Hamlet, der immer klug<lb/>
predigt, und dumm handelt. &#x2014; Ich wollte aber gern, ihr ge-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[297/0311] die Fähigkeit, und das Recht, ſich zu propagiren, haben ſie auch; und ſchon das Gute, welches man einem Menſchen angedeihen läßt, iſt unberechenbar. Nur wünſche ich, man möge ihnen wahrhaft nützen können: bis jetzt gelang dies noch mit dieſer zerriſſenen, verwahrloſten, und noch mehr als alles dies verdient verachteten Nation nicht! Glaube nicht, Roſe, daß mich irgend eine Trägheit oder Rückſicht abhalten kann, an D. zu ſchreiben, als die tiefſte und gründlichſte Überzeugung, daß er ſich gar nichts aus mir macht: und ich höchſtens ihm en personne, ihm gegenüber ſtehend, ein Achthaben auf mich abdrängen könnte. Du irrſt, alte Roſe! und verwechſelſt mein tiefes Eindringen in die Gemüther der Menſchen, und mein ſchnelles Auffaſſen ihrer Eigenheiten, mit dem Eindruck, welchen ich auf die Men- ſchen mache. Ich verſichere dich, ich bin belehrt worden, daß er über negativ weg ſteht; und ordentlich nicht gut zu nennen iſt. Auch ich war lange unſchuldig darin; und glaubte, harmlos wie ich bin, und bis zur Feigheit nachgiebig, wären ſie mir gut; indeß ſie mich nur gebrauchten: der Menſch will gereizt ſein; ſo bin ich ſelbſt; aber gar nicht reizend. Bewunderns würdiges und Rührendes giebt es wenig; und noch Wenigere, die gerührt werden können, oder zu verehren verſtünden. — Laß den Zorn gegen Ludwig ſinken; und bedenke, daß alle Levin’s ſehr nachläſſig ſind; — ich begreife, daß nach einem freundlich innigen Zuſammenſein ſolches Schweigen empört; und auch ich war ſchon oft gegen jeden zornig — bin wie Polonius im Hamlet, der immer klug predigt, und dumm handelt. — Ich wollte aber gern, ihr ge-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/311
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 297. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/311>, abgerufen am 30.11.2024.