oder Künstlerin macht. Auch muß jeder Blick von mir, jede Inflexion des ganzen Körpers und der Stimme ein voller und genauer Ausdruck dessen gewesen sein, was in mir vor- ging. Denn mit dem Alter, mit jedem halben Tag, werd' ich der Verstellung unfähiger. Und o! wie richtig das. Mein ewiges Denken macht mir alles schneller klar als sonst, und in mir graben hat mich empfindlicher gemacht, als die frei- gebige Natur selbst es beabsichtigte. Hoffnungslosigkeit macht mich auch rücksichtsloser; Unrecht dulden auflehnender; Man- gel an Laune launiger, wenn ich einen Rest davon verspüre; und endlich die Schlechtigkeit -- die eines schlechten Apfels der noch nicht reifen wollte, mit verfaulten Kernen, anstatt gesundem Innern -- straflustig. So, und noch tausendfach anders, fühlte ich mich; und so schien ich dem Mahler in's Gesicht wie die Sonne, die wohl den Blödesten blendet, ohne daß er ein Wort von ihr je zu expliciren vermag! Gott, wenn Sie doch einmal ausgingen! zu mir, und wir zusammen aus. Machen Sie sich einmal auf! Sie können sich sonst ganz einliegen. Glauben Sie denn, daß ich nicht ganz herunter bin? Würde ich sonst ein Wort der Klage bei Ihnen vor- lassen? Ich glaube nun endlich, bei Gott! ich ertrag es nicht länger! Lebhafter wird mir alle Tage, was geschehen ist. Und andre Menschen sagen, man tröstet sich! Ich bin so empfindlich bis zur Empörung! Und auf diese Weise är- gerte mich auch gestern E.! Nicht daß seine Verdutztheit nicht jedem erschienen wäre wie ich's Ihnen mündlich -- weil es schriftlich die Dinte nicht werth ist! -- erzählen werde; aber sonst, -- Gott, sonst! -- achtete ich auf so etwas gar nicht,
oder Künſtlerin macht. Auch muß jeder Blick von mir, jede Inflexion des ganzen Körpers und der Stimme ein voller und genauer Ausdruck deſſen geweſen ſein, was in mir vor- ging. Denn mit dem Alter, mit jedem halben Tag, werd’ ich der Verſtellung unfähiger. Und o! wie richtig das. Mein ewiges Denken macht mir alles ſchneller klar als ſonſt, und in mir graben hat mich empfindlicher gemacht, als die frei- gebige Natur ſelbſt es beabſichtigte. Hoffnungsloſigkeit macht mich auch rückſichtsloſer; Unrecht dulden auflehnender; Man- gel an Laune launiger, wenn ich einen Reſt davon verſpüre; und endlich die Schlechtigkeit — die eines ſchlechten Apfels der noch nicht reifen wollte, mit verfaulten Kernen, anſtatt geſundem Innern — ſtrafluſtig. So, und noch tauſendfach anders, fühlte ich mich; und ſo ſchien ich dem Mahler in’s Geſicht wie die Sonne, die wohl den Blödeſten blendet, ohne daß er ein Wort von ihr je zu expliciren vermag! Gott, wenn Sie doch einmal ausgingen! zu mir, und wir zuſammen aus. Machen Sie ſich einmal auf! Sie können ſich ſonſt ganz einliegen. Glauben Sie denn, daß ich nicht ganz herunter bin? Würde ich ſonſt ein Wort der Klage bei Ihnen vor- laſſen? Ich glaube nun endlich, bei Gott! ich ertrag es nicht länger! Lebhafter wird mir alle Tage, was geſchehen iſt. Und andre Menſchen ſagen, man tröſtet ſich! Ich bin ſo empfindlich bis zur Empörung! Und auf dieſe Weiſe är- gerte mich auch geſtern E.! Nicht daß ſeine Verdutztheit nicht jedem erſchienen wäre wie ich’s Ihnen mündlich — weil es ſchriftlich die Dinte nicht werth iſt! — erzählen werde; aber ſonſt, — Gott, ſonſt! — achtete ich auf ſo etwas gar nicht,
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oder Künſtlerin macht. Auch muß jeder Blick von mir, jede
Inflexion des ganzen Körpers und der Stimme ein voller
und genauer Ausdruck deſſen geweſen ſein, was in mir vor-
ging. Denn mit dem Alter, mit jedem halben Tag, werd’ ich
der Verſtellung unfähiger. Und o! wie richtig das. Mein
ewiges Denken macht mir alles ſchneller klar als ſonſt, und
in mir graben hat mich empfindlicher gemacht, als die frei-
gebige Natur ſelbſt es beabſichtigte. Hoffnungsloſigkeit macht
mich auch rückſichtsloſer; Unrecht dulden auflehnender; Man-
gel an Laune launiger, wenn ich einen Reſt davon verſpüre;
und endlich die Schlechtigkeit — die eines ſchlechten Apfels
der noch nicht reifen wollte, mit verfaulten Kernen, anſtatt
geſundem Innern — ſtrafluſtig. So, und noch tauſendfach
anders, fühlte ich mich; und ſo ſchien ich dem Mahler in’s
Geſicht wie die Sonne, die wohl den Blödeſten blendet, ohne
daß er ein Wort von ihr je zu expliciren vermag! Gott, wenn
Sie doch einmal ausgingen! zu mir, und wir zuſammen aus.
Machen Sie ſich einmal auf! Sie können ſich ſonſt ganz
einliegen. Glauben Sie denn, daß ich nicht ganz herunter
bin? Würde ich ſonſt ein Wort der Klage bei Ihnen vor-
laſſen? Ich glaube nun endlich, bei Gott! ich ertrag es nicht
länger! Lebhafter wird mir alle Tage, was geſchehen iſt.
Und andre Menſchen ſagen, man tröſtet ſich! Ich bin ſo
empfindlich bis zur Empörung! Und auf dieſe Weiſe är-
gerte mich auch geſtern E.! Nicht daß ſeine Verdutztheit nicht
jedem erſchienen wäre wie ich’s Ihnen mündlich — weil es
ſchriftlich die Dinte nicht werth iſt! — erzählen werde; aber
ſonſt, — Gott, ſonſt! — achtete ich auf ſo etwas gar nicht,
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 286. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/300>, abgerufen am 29.11.2024.
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