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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834.

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zen Sommer hier, und ohne großes Ereigniß auch diesen
Winter. Ich bin noch schwach: fahre aber schon einen Mo-
nat aus. Ich bin ohne Freund, und beinah ohne Herz.

Nie hat mir ein Mensch besser gefallen, als Stieglitz.
Wie er in's Zimmer trat, liebt' ich ihn. Dem vertraut ich
mich ohne Verabredung; und die bedarf's auch bei ihm nicht.
Dieser Ernst, diese Sanftmuth, dies schöne Gesicht. Ich bin
recht glücklich, daß ich ihn kenne. Er sah mich in der größ-
ten turpitude, so häßlich! Nein, solch schönes Gemüthe! Ich
halte es für ein Unglück, daß er nach Taurien ging; doch
ist es gut, denn ein verheiratheter Mensch sollte wenigstens
die Fakultät seines ganzen Herzens veräußert haben, und alle
übrige dazu anwenden, und in diesem Fall müßte er dann
doch wenigstens ein schlechtes Gewissen haben. Ich will nicht
hoffen, daß Sie, auch Sie, diese Strenge überrascht; plump,
wie es die Menschen meinen, die ich hasse, wenn sie von
Pflicht, Gewissen, Recht u. s. w. sprechen, kann ich es nicht
meinen. Also Stieglitz ist verloren. "Wie sonderbar ist es
doch, daß dem Menschen nicht allein das Unmögliche, sondern
auch so manches Mögliche versagt ist." Meister zu Aurelie.
Das schönste Diktum! ganz aus dem Herzen und gradezu den
Geist ansprechend: denn nur der menschliche Geist macht den
amüsanten Unterschied von möglich und unmöglich.

Sie kann ich also nur in Hamburg sehen. Nun! die
Tage bringen alles. Hat man Ihnen gesagt, wie ich Sie liebe?
wie gegenwärtig Sie mir sind? Schlechte Menschen werden
das Gute überdrüssig, das Schlechte gewohnt; ich -- nun
auch Gottlob zu sagen -- ich, Gottlob!! bin immer wie-

zen Sommer hier, und ohne großes Ereigniß auch dieſen
Winter. Ich bin noch ſchwach: fahre aber ſchon einen Mo-
nat aus. Ich bin ohne Freund, und beinah ohne Herz.

Nie hat mir ein Menſch beſſer gefallen, als Stieglitz.
Wie er in’s Zimmer trat, liebt’ ich ihn. Dem vertraut ich
mich ohne Verabredung; und die bedarf’s auch bei ihm nicht.
Dieſer Ernſt, dieſe Sanftmuth, dies ſchöne Geſicht. Ich bin
recht glücklich, daß ich ihn kenne. Er ſah mich in der größ-
ten turpitude, ſo häßlich! Nein, ſolch ſchönes Gemüthe! Ich
halte es für ein Unglück, daß er nach Taurien ging; doch
iſt es gut, denn ein verheiratheter Menſch ſollte wenigſtens
die Fakultät ſeines ganzen Herzens veräußert haben, und alle
übrige dazu anwenden, und in dieſem Fall müßte er dann
doch wenigſtens ein ſchlechtes Gewiſſen haben. Ich will nicht
hoffen, daß Sie, auch Sie, dieſe Strenge überraſcht; plump,
wie es die Menſchen meinen, die ich haſſe, wenn ſie von
Pflicht, Gewiſſen, Recht u. ſ. w. ſprechen, kann ich es nicht
meinen. Alſo Stieglitz iſt verloren. „Wie ſonderbar iſt es
doch, daß dem Menſchen nicht allein das Unmögliche, ſondern
auch ſo manches Mögliche verſagt iſt.“ Meiſter zu Aurelie.
Das ſchönſte Diktum! ganz aus dem Herzen und gradezu den
Geiſt anſprechend: denn nur der menſchliche Geiſt macht den
amüſanten Unterſchied von möglich und unmöglich.

Sie kann ich alſo nur in Hamburg ſehen. Nun! die
Tage bringen alles. Hat man Ihnen geſagt, wie ich Sie liebe?
wie gegenwärtig Sie mir ſind? Schlechte Menſchen werden
das Gute überdrüſſig, das Schlechte gewohnt; ich — nun
auch Gottlob zu ſagen — ich, Gottlob!! bin immer wie-

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[254/0268] zen Sommer hier, und ohne großes Ereigniß auch dieſen Winter. Ich bin noch ſchwach: fahre aber ſchon einen Mo- nat aus. Ich bin ohne Freund, und beinah ohne Herz. Nie hat mir ein Menſch beſſer gefallen, als Stieglitz. Wie er in’s Zimmer trat, liebt’ ich ihn. Dem vertraut ich mich ohne Verabredung; und die bedarf’s auch bei ihm nicht. Dieſer Ernſt, dieſe Sanftmuth, dies ſchöne Geſicht. Ich bin recht glücklich, daß ich ihn kenne. Er ſah mich in der größ- ten turpitude, ſo häßlich! Nein, ſolch ſchönes Gemüthe! Ich halte es für ein Unglück, daß er nach Taurien ging; doch iſt es gut, denn ein verheiratheter Menſch ſollte wenigſtens die Fakultät ſeines ganzen Herzens veräußert haben, und alle übrige dazu anwenden, und in dieſem Fall müßte er dann doch wenigſtens ein ſchlechtes Gewiſſen haben. Ich will nicht hoffen, daß Sie, auch Sie, dieſe Strenge überraſcht; plump, wie es die Menſchen meinen, die ich haſſe, wenn ſie von Pflicht, Gewiſſen, Recht u. ſ. w. ſprechen, kann ich es nicht meinen. Alſo Stieglitz iſt verloren. „Wie ſonderbar iſt es doch, daß dem Menſchen nicht allein das Unmögliche, ſondern auch ſo manches Mögliche verſagt iſt.“ Meiſter zu Aurelie. Das ſchönſte Diktum! ganz aus dem Herzen und gradezu den Geiſt anſprechend: denn nur der menſchliche Geiſt macht den amüſanten Unterſchied von möglich und unmöglich. Sie kann ich alſo nur in Hamburg ſehen. Nun! die Tage bringen alles. Hat man Ihnen geſagt, wie ich Sie liebe? wie gegenwärtig Sie mir ſind? Schlechte Menſchen werden das Gute überdrüſſig, das Schlechte gewohnt; ich — nun auch Gottlob zu ſagen — ich, Gottlob!! bin immer wie-

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/268>, abgerufen am 26.11.2024.