nicht gepredigt; der Franzose läßt die Dame den Salat mit den Fingern rühren, und viel mehr dgl. und Goethe läßt die Damen Tasso'n Kleider sticken und wählen, und ihn nur desto besser darum lieben, und Werthern entzückt Brot schneiden sehen, tausend Dinge für die Kinder machen u. s. w. Hätte doch Hr. von Humboldt eins von diesen Werken vorgenom- men, so hätte man zwei Genie's zu gleicher Zeit bewundern und verstehen lernen, und das größte menschliche Vergnügen gehabt, ein Genie das andere bewundern zu sehn. "Nach- theilige Stadtgerüchte" müssen eine Henriette auch nicht einen Augenblick (und können auch gar nicht, wie sie uns Jacobi schildert) verleiten, Woldemar in Unruhe zu stürzen, den sie kennt, und dem sie sich lange in sich aufgeopfert hat ("still sich widmete" sagt Goethe in Erwin und Elmire, das könn- ten Sie doch nicht wissen). Das auf dem Sterbebette des Vaters gegebene Gelübde ist nicht außer der Natur, tritt aber, wie Hr. von Humboldt selbst anmerkt, hier affektirt auf: hat sie's aber gegeben, warum ist sie mit Woldemar nicht auf dem Fuß, daß sie's ihm sagen kann, oder hält es wofür es ist, für ein Freundschaftsstück an einen nicht mehr zu ändern- den, sterbenden, angstvollen Vater! Und warum kann es Wol- demar nicht gelassen hören? Sie sind also beide noch nicht fertig! Hätte Hr. von Humboldt doch über fertige Menschen so gesprochen, die durch äußere Umstände so in Verlegenheit sind, und wo man nicht jeden Augenblick denken muß: könnt' ich ihnen nur die Augen öffnen: und lieber mitfühlen muß, wie schrecklich es manchmal zu leben ist, und daß dann von Verzweiflung nichts retten kann, als eben das, was die Trauer
nicht gepredigt; der Franzoſe läßt die Dame den Salat mit den Fingern rühren, und viel mehr dgl. und Goethe läßt die Damen Taſſo’n Kleider ſticken und wählen, und ihn nur deſto beſſer darum lieben, und Werthern entzückt Brot ſchneiden ſehen, tauſend Dinge für die Kinder machen u. ſ. w. Hätte doch Hr. von Humboldt eins von dieſen Werken vorgenom- men, ſo hätte man zwei Genie’s zu gleicher Zeit bewundern und verſtehen lernen, und das größte menſchliche Vergnügen gehabt, ein Genie das andere bewundern zu ſehn. „Nach- theilige Stadtgerüchte“ müſſen eine Henriette auch nicht einen Augenblick (und können auch gar nicht, wie ſie uns Jacobi ſchildert) verleiten, Woldemar in Unruhe zu ſtürzen, den ſie kennt, und dem ſie ſich lange in ſich aufgeopfert hat („ſtill ſich widmete“ ſagt Goethe in Erwin und Elmire, das könn- ten Sie doch nicht wiſſen). Das auf dem Sterbebette des Vaters gegebene Gelübde iſt nicht außer der Natur, tritt aber, wie Hr. von Humboldt ſelbſt anmerkt, hier affektirt auf: hat ſie’s aber gegeben, warum iſt ſie mit Woldemar nicht auf dem Fuß, daß ſie’s ihm ſagen kann, oder hält es wofür es iſt, für ein Freundſchaftsſtück an einen nicht mehr zu ändern- den, ſterbenden, angſtvollen Vater! Und warum kann es Wol- demar nicht gelaſſen hören? Sie ſind alſo beide noch nicht fertig! Hätte Hr. von Humboldt doch über fertige Menſchen ſo geſprochen, die durch äußere Umſtände ſo in Verlegenheit ſind, und wo man nicht jeden Augenblick denken muß: könnt’ ich ihnen nur die Augen öffnen: und lieber mitfühlen muß, wie ſchrecklich es manchmal zu leben iſt, und daß dann von Verzweiflung nichts retten kann, als eben das, was die Trauer
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0123"n="109"/>
nicht gepredigt; der Franzoſe läßt die Dame den Salat mit<lb/>
den Fingern rühren, und viel mehr dgl. und Goethe läßt die<lb/>
Damen Taſſo’n Kleider ſticken und wählen, und ihn nur deſto<lb/>
beſſer darum lieben, und Werthern entzückt Brot ſchneiden<lb/>ſehen, tauſend Dinge für die Kinder machen u. ſ. w. Hätte<lb/>
doch Hr. von Humboldt eins von dieſen Werken vorgenom-<lb/>
men, ſo hätte man <hirendition="#g">zwei</hi> Genie’s zu gleicher Zeit bewundern<lb/>
und verſtehen lernen, und das größte menſchliche Vergnügen<lb/>
gehabt, ein Genie das andere bewundern zu ſehn. „Nach-<lb/>
theilige Stadtgerüchte“ müſſen eine Henriette auch nicht einen<lb/>
Augenblick (und können auch gar nicht, wie ſie uns Jacobi<lb/>ſchildert) verleiten, Woldemar in Unruhe zu ſtürzen, den ſie<lb/>
kennt, und dem ſie ſich lange in ſich aufgeopfert hat („ſtill<lb/>ſich widmete“ſagt Goethe in Erwin und Elmire, das könn-<lb/>
ten Sie doch nicht wiſſen). Das auf dem Sterbebette des<lb/>
Vaters gegebene Gelübde iſt nicht außer der Natur, tritt aber,<lb/>
wie Hr. von Humboldt ſelbſt anmerkt, hier affektirt auf: hat<lb/>ſie’s aber gegeben, warum iſt ſie mit Woldemar nicht auf<lb/>
dem Fuß, daß ſie’s ihm ſagen kann, oder hält es wofür es<lb/>
iſt, für ein Freundſchaftsſtück an einen nicht mehr zu ändern-<lb/>
den, ſterbenden, angſtvollen Vater! Und warum kann es Wol-<lb/>
demar nicht gelaſſen hören? Sie ſind alſo beide noch nicht<lb/>
fertig! Hätte Hr. von Humboldt doch über fertige Menſchen<lb/>ſo geſprochen, die durch äußere Umſtände ſo in Verlegenheit<lb/>ſind, und wo man nicht jeden Augenblick denken muß: könnt’<lb/>
ich ihnen nur die Augen öffnen: und lieber mitfühlen muß,<lb/>
wie ſchrecklich es manchmal zu leben iſt, und daß dann von<lb/>
Verzweiflung nichts retten kann, als eben das, was die Trauer<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[109/0123]
nicht gepredigt; der Franzoſe läßt die Dame den Salat mit
den Fingern rühren, und viel mehr dgl. und Goethe läßt die
Damen Taſſo’n Kleider ſticken und wählen, und ihn nur deſto
beſſer darum lieben, und Werthern entzückt Brot ſchneiden
ſehen, tauſend Dinge für die Kinder machen u. ſ. w. Hätte
doch Hr. von Humboldt eins von dieſen Werken vorgenom-
men, ſo hätte man zwei Genie’s zu gleicher Zeit bewundern
und verſtehen lernen, und das größte menſchliche Vergnügen
gehabt, ein Genie das andere bewundern zu ſehn. „Nach-
theilige Stadtgerüchte“ müſſen eine Henriette auch nicht einen
Augenblick (und können auch gar nicht, wie ſie uns Jacobi
ſchildert) verleiten, Woldemar in Unruhe zu ſtürzen, den ſie
kennt, und dem ſie ſich lange in ſich aufgeopfert hat („ſtill
ſich widmete“ ſagt Goethe in Erwin und Elmire, das könn-
ten Sie doch nicht wiſſen). Das auf dem Sterbebette des
Vaters gegebene Gelübde iſt nicht außer der Natur, tritt aber,
wie Hr. von Humboldt ſelbſt anmerkt, hier affektirt auf: hat
ſie’s aber gegeben, warum iſt ſie mit Woldemar nicht auf
dem Fuß, daß ſie’s ihm ſagen kann, oder hält es wofür es
iſt, für ein Freundſchaftsſtück an einen nicht mehr zu ändern-
den, ſterbenden, angſtvollen Vater! Und warum kann es Wol-
demar nicht gelaſſen hören? Sie ſind alſo beide noch nicht
fertig! Hätte Hr. von Humboldt doch über fertige Menſchen
ſo geſprochen, die durch äußere Umſtände ſo in Verlegenheit
ſind, und wo man nicht jeden Augenblick denken muß: könnt’
ich ihnen nur die Augen öffnen: und lieber mitfühlen muß,
wie ſchrecklich es manchmal zu leben iſt, und daß dann von
Verzweiflung nichts retten kann, als eben das, was die Trauer
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/123>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.