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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834.

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über jeden nicht schlechten Roman diese außerordentliche Re-
zension machen und das drüber denken können; aber Jacobi
muß das nicht denken, wenn er schreibt, und das dünkt mich
las ich in seinem Buche; ich fand immer die Festsetzung eines
Systems darin, und nicht außerordentliche Karaktere, die mich
es finden ließen, wenn ich sie untersuchte; es kam mir immer
vor, als theilte er mir einen Plan mit, wie er ein Buch
machen wollte, und darum konnt' ich nie Genie darin finden;
Sinn, Menschenkenntniß, Philosophie immer, und im zweiten
Theil vermißt' ich auch die. Ein Genie muß Vorfälle der
Natur ergreifen und zusammenzustellen wissen, und mit drun-
ter andeuten, was es selbst darüber denkt, oder auch nicht,
so muß man, wenn man selbst nachdenkt, allgemeine Regeln
darin auffinden können, oder als Wahrnehmungen drin fin-
den; ein Kunstwerk muß mir aber nicht immer sagen, was es
will, es muß es gleich zeigen. Darin unterscheidet sich die
Rezension von dem Werke selbst, das sie rezensirt, und Jaco-
bi's Werk kommt mir nur vor, wie eine Skizze zu Hrn.
von Humboldt's Rezension, und es sollte doch der Text sein.
Ein guter Rathgeber müßte Jacobi einem neuen Goethe oder
Rousseau in ihrer Jugend sein. Man muß wohl etwas zu
beweisen im Sinne haben, wenn man einen Roman schreibt,
aber man muß noch jung genug in sich sein es nur zu füh-
len, und es nicht ewig analysirt auf der Zunge tragen; sonst
wird's eine Lehre, wie man beweisen soll, und nicht ein le-
bendiges aus der Natur gegriffenes Exempel für den Beweis.
Darum scheint mir Hrn. von Humboldt's Rezension so voller
tiefen zerlegten Inhalts, der hier Genie ist, weil er unter-

über jeden nicht ſchlechten Roman dieſe außerordentliche Re-
zenſion machen und das drüber denken können; aber Jacobi
muß das nicht denken, wenn er ſchreibt, und das dünkt mich
las ich in ſeinem Buche; ich fand immer die Feſtſetzung eines
Syſtems darin, und nicht außerordentliche Karaktere, die mich
es finden ließen, wenn ich ſie unterſuchte; es kam mir immer
vor, als theilte er mir einen Plan mit, wie er ein Buch
machen wollte, und darum konnt’ ich nie Genie darin finden;
Sinn, Menſchenkenntniß, Philoſophie immer, und im zweiten
Theil vermißt’ ich auch die. Ein Genie muß Vorfälle der
Natur ergreifen und zuſammenzuſtellen wiſſen, und mit drun-
ter andeuten, was es ſelbſt darüber denkt, oder auch nicht,
ſo muß man, wenn man ſelbſt nachdenkt, allgemeine Regeln
darin auffinden können, oder als Wahrnehmungen drin fin-
den; ein Kunſtwerk muß mir aber nicht immer ſagen, was es
will, es muß es gleich zeigen. Darin unterſcheidet ſich die
Rezenſion von dem Werke ſelbſt, das ſie rezenſirt, und Jaco-
bi’s Werk kommt mir nur vor, wie eine Skizze zu Hrn.
von Humboldt’s Rezenſion, und es ſollte doch der Text ſein.
Ein guter Rathgeber müßte Jacobi einem neuen Goethe oder
Rouſſeau in ihrer Jugend ſein. Man muß wohl etwas zu
beweiſen im Sinne haben, wenn man einen Roman ſchreibt,
aber man muß noch jung genug in ſich ſein es nur zu füh-
len, und es nicht ewig analyſirt auf der Zunge tragen; ſonſt
wird’s eine Lehre, wie man beweiſen ſoll, und nicht ein le-
bendiges aus der Natur gegriffenes Exempel für den Beweis.
Darum ſcheint mir Hrn. von Humboldt’s Rezenſion ſo voller
tiefen zerlegten Inhalts, der hier Genie iſt, weil er unter-

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[107/0121] über jeden nicht ſchlechten Roman dieſe außerordentliche Re- zenſion machen und das drüber denken können; aber Jacobi muß das nicht denken, wenn er ſchreibt, und das dünkt mich las ich in ſeinem Buche; ich fand immer die Feſtſetzung eines Syſtems darin, und nicht außerordentliche Karaktere, die mich es finden ließen, wenn ich ſie unterſuchte; es kam mir immer vor, als theilte er mir einen Plan mit, wie er ein Buch machen wollte, und darum konnt’ ich nie Genie darin finden; Sinn, Menſchenkenntniß, Philoſophie immer, und im zweiten Theil vermißt’ ich auch die. Ein Genie muß Vorfälle der Natur ergreifen und zuſammenzuſtellen wiſſen, und mit drun- ter andeuten, was es ſelbſt darüber denkt, oder auch nicht, ſo muß man, wenn man ſelbſt nachdenkt, allgemeine Regeln darin auffinden können, oder als Wahrnehmungen drin fin- den; ein Kunſtwerk muß mir aber nicht immer ſagen, was es will, es muß es gleich zeigen. Darin unterſcheidet ſich die Rezenſion von dem Werke ſelbſt, das ſie rezenſirt, und Jaco- bi’s Werk kommt mir nur vor, wie eine Skizze zu Hrn. von Humboldt’s Rezenſion, und es ſollte doch der Text ſein. Ein guter Rathgeber müßte Jacobi einem neuen Goethe oder Rouſſeau in ihrer Jugend ſein. Man muß wohl etwas zu beweiſen im Sinne haben, wenn man einen Roman ſchreibt, aber man muß noch jung genug in ſich ſein es nur zu füh- len, und es nicht ewig analyſirt auf der Zunge tragen; ſonſt wird’s eine Lehre, wie man beweiſen ſoll, und nicht ein le- bendiges aus der Natur gegriffenes Exempel für den Beweis. Darum ſcheint mir Hrn. von Humboldt’s Rezenſion ſo voller tiefen zerlegten Inhalts, der hier Genie iſt, weil er unter-

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/121>, abgerufen am 22.12.2024.