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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834.

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haupt; die überhaupt nur eine ergriffene Gelegenheit ist, Ge-
danken vorzutragen, die man (je unreifer sie sind) nicht mehr
gut findet bei sich zu tragen, und eine Probe sind, die man
sich selbst ablegt, nach den neuen Systemen die Dinge zu
nehmen. Denn sonst kann diese letzte Regel nur unerzogenen
Menschen gelten, daß die keinen Geschmack haben ist ausge-
macht, daß zu dem sittliches Gefühl, zu diesem Vernunftprü-
fung unsrer eignen Empfindungen gehört, eben so; und daß
man ihnen keinen einschwätzen wird, noch gewisser. Und daß die
nicht verstehen was Schiller sagt, noch gewisser; jemehr die-
ser letzte Gedanke neu sein und auf viele andre Dinge ange-
wendet werden könnte. En effigie käm' ich in der Litteratur-
zeitung, oder andern solchen Orten, vor, wenn ich nicht das
erbärmlichste Nichts wäre, und man um diesen Brief wüßte;
als das schamloseste Geschöpf würd' ich von Partikuliers bei-
der Geschlechter verabscheut, wenn andere Leute, als Gelehrte,
darum wüßten: aber auch Sie bitte ich, mich, noch jetzt we-
nigstens nicht, für zügellos arrogant zu halten, bis Sie meine
Meinung über die zweite Rezension gelesen haben, von der ich
eben so aufrichtig reden will; sonst müßten Sie dann schweigen,
weil Sie nicht wüßten, womit Sie mich vergleichen sollten. Die
Rezension über den Gartenkalender hab' ich noch nicht gelesen,
weil ich mir gestern von Hrn. von Brinckmann einen Pack
Litteraturzeitungen geben ließ, und wie ich sie die Nacht durch-
suche, keine Gartenkalender-Rezension, sondern eine über Wol-
demar von Hrn. von Humboldt finde, von der ich mich schon
lange abschrecken ließ, weil sie dieselbe für zu schwer aus-
schrieen, und ich bescheiden-dumm es glaubte (es verleitet doch

haupt; die überhaupt nur eine ergriffene Gelegenheit iſt, Ge-
danken vorzutragen, die man (je unreifer ſie ſind) nicht mehr
gut findet bei ſich zu tragen, und eine Probe ſind, die man
ſich ſelbſt ablegt, nach den neuen Syſtemen die Dinge zu
nehmen. Denn ſonſt kann dieſe letzte Regel nur unerzogenen
Menſchen gelten, daß die keinen Geſchmack haben iſt ausge-
macht, daß zu dem ſittliches Gefühl, zu dieſem Vernunftprü-
fung unſrer eignen Empfindungen gehört, eben ſo; und daß
man ihnen keinen einſchwätzen wird, noch gewiſſer. Und daß die
nicht verſtehen was Schiller ſagt, noch gewiſſer; jemehr die-
ſer letzte Gedanke neu ſein und auf viele andre Dinge ange-
wendet werden könnte. En effigie käm’ ich in der Litteratur-
zeitung, oder andern ſolchen Orten, vor, wenn ich nicht das
erbärmlichſte Nichts wäre, und man um dieſen Brief wüßte;
als das ſchamloſeſte Geſchöpf würd’ ich von Partikuliers bei-
der Geſchlechter verabſcheut, wenn andere Leute, als Gelehrte,
darum wüßten: aber auch Sie bitte ich, mich, noch jetzt we-
nigſtens nicht, für zügellos arrogant zu halten, bis Sie meine
Meinung über die zweite Rezenſion geleſen haben, von der ich
eben ſo aufrichtig reden will; ſonſt müßten Sie dann ſchweigen,
weil Sie nicht wüßten, womit Sie mich vergleichen ſollten. Die
Rezenſion über den Gartenkalender hab’ ich noch nicht geleſen,
weil ich mir geſtern von Hrn. von Brinckmann einen Pack
Litteraturzeitungen geben ließ, und wie ich ſie die Nacht durch-
ſuche, keine Gartenkalender-Rezenſion, ſondern eine über Wol-
demar von Hrn. von Humboldt finde, von der ich mich ſchon
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[104/0118] haupt; die überhaupt nur eine ergriffene Gelegenheit iſt, Ge- danken vorzutragen, die man (je unreifer ſie ſind) nicht mehr gut findet bei ſich zu tragen, und eine Probe ſind, die man ſich ſelbſt ablegt, nach den neuen Syſtemen die Dinge zu nehmen. Denn ſonſt kann dieſe letzte Regel nur unerzogenen Menſchen gelten, daß die keinen Geſchmack haben iſt ausge- macht, daß zu dem ſittliches Gefühl, zu dieſem Vernunftprü- fung unſrer eignen Empfindungen gehört, eben ſo; und daß man ihnen keinen einſchwätzen wird, noch gewiſſer. Und daß die nicht verſtehen was Schiller ſagt, noch gewiſſer; jemehr die- ſer letzte Gedanke neu ſein und auf viele andre Dinge ange- wendet werden könnte. En effigie käm’ ich in der Litteratur- zeitung, oder andern ſolchen Orten, vor, wenn ich nicht das erbärmlichſte Nichts wäre, und man um dieſen Brief wüßte; als das ſchamloſeſte Geſchöpf würd’ ich von Partikuliers bei- der Geſchlechter verabſcheut, wenn andere Leute, als Gelehrte, darum wüßten: aber auch Sie bitte ich, mich, noch jetzt we- nigſtens nicht, für zügellos arrogant zu halten, bis Sie meine Meinung über die zweite Rezenſion geleſen haben, von der ich eben ſo aufrichtig reden will; ſonſt müßten Sie dann ſchweigen, weil Sie nicht wüßten, womit Sie mich vergleichen ſollten. Die Rezenſion über den Gartenkalender hab’ ich noch nicht geleſen, weil ich mir geſtern von Hrn. von Brinckmann einen Pack Litteraturzeitungen geben ließ, und wie ich ſie die Nacht durch- ſuche, keine Gartenkalender-Rezenſion, ſondern eine über Wol- demar von Hrn. von Humboldt finde, von der ich mich ſchon lange abſchrecken ließ, weil ſie dieſelbe für zu ſchwer aus- ſchrieen, und ich beſcheiden-dumm es glaubte (es verleitet doch

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/118>, abgerufen am 22.12.2024.