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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834.

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sing vorgekommen; den wollen sie mit aller Gewalt verges-
sen
; weil seine Rezensionen (denn viele seiner Werke, und
besonders Laokoon, kommen mir wie Rezensionen der Künste
vor) nicht so sentimental waren, und er nicht immer das
Genie rezensirte, analysirte, das hohe Menschliche heraussuchte,
und bewies, daß das Genie ein Genie ist, -- sondern das
Kunstwerk vornahm, aufstellte, mit Gründen tadelte, oder für
das alte Lob welche zeigte, den Forderungen sichere Gränzen
steckte, und mit richtendem Blick und euthusiastischem Bei-
fall das Genie sie erreichen sah, und seine Genialität in
Ruhe ließ.

Glauben Sie nur nicht, ich sähe nicht ein, daß eine jetzige
Rezension anders ausfallen muß, als eine vor zehn oder
zwölf Jahren -- die immer viel bedeuten, und die letzten
besonders --, und daß die jetzigen guten, wie die früheren,
so verschieden sie sein mögen, doch immer nur anders modifi-
zirte Äußerungen ein- und desselben Genies sind; oder daß
ich mir gewisse Dinge, die man jetzt sehr in Anschlag nimmt,
und sie in die Pension der Vernunft giebt, und sie mit der
in der ernstesten Gesellschaft gehen läßt, ohne über deren Sen-
timentalität mitleidig zu rümpfen, -- nicht deutlich genug ge-
macht habe, und also nicht folgen kann, wenn man davon
spricht: o nein! Ich habe das verstanden, was ich gelesen
habe, und mit dieser letzten Phrasis noch niemals gelogen.
Aber auch was Wieland einmal so fest baute, fängt schon
bei seinem Leben an, Breschen zu bekommen (so wüthend ist
man jetzt, alle Gebäude zu zerstören, um ihren Grund zu
untersuchen). -- "Doch neue Bahnen sich zu brechen, heißt in

ſing vorgekommen; den wollen ſie mit aller Gewalt vergeſ-
ſen
; weil ſeine Rezenſionen (denn viele ſeiner Werke, und
beſonders Laokoon, kommen mir wie Rezenſionen der Künſte
vor) nicht ſo ſentimental waren, und er nicht immer das
Genie rezenſirte, analyſirte, das hohe Menſchliche herausſuchte,
und bewies, daß das Genie ein Genie iſt, — ſondern das
Kunſtwerk vornahm, aufſtellte, mit Gründen tadelte, oder für
das alte Lob welche zeigte, den Forderungen ſichere Gränzen
ſteckte, und mit richtendem Blick und euthuſiaſtiſchem Bei-
fall das Genie ſie erreichen ſah, und ſeine Genialität in
Ruhe ließ.

Glauben Sie nur nicht, ich ſähe nicht ein, daß eine jetzige
Rezenſion anders ausfallen muß, als eine vor zehn oder
zwölf Jahren — die immer viel bedeuten, und die letzten
beſonders —, und daß die jetzigen guten, wie die früheren,
ſo verſchieden ſie ſein mögen, doch immer nur anders modifi-
zirte Äußerungen ein- und deſſelben Genies ſind; oder daß
ich mir gewiſſe Dinge, die man jetzt ſehr in Anſchlag nimmt,
und ſie in die Penſion der Vernunft giebt, und ſie mit der
in der ernſteſten Geſellſchaft gehen läßt, ohne über deren Sen-
timentalität mitleidig zu rümpfen, — nicht deutlich genug ge-
macht habe, und alſo nicht folgen kann, wenn man davon
ſpricht: o nein! Ich habe das verſtanden, was ich geleſen
habe, und mit dieſer letzten Phraſis noch niemals gelogen.
Aber auch was Wieland einmal ſo feſt baute, fängt ſchon
bei ſeinem Leben an, Breſchen zu bekommen (ſo wüthend iſt
man jetzt, alle Gebäude zu zerſtören, um ihren Grund zu
unterſuchen). — „Doch neue Bahnen ſich zu brechen, heißt in

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[101/0115] ſing vorgekommen; den wollen ſie mit aller Gewalt vergeſ- ſen; weil ſeine Rezenſionen (denn viele ſeiner Werke, und beſonders Laokoon, kommen mir wie Rezenſionen der Künſte vor) nicht ſo ſentimental waren, und er nicht immer das Genie rezenſirte, analyſirte, das hohe Menſchliche herausſuchte, und bewies, daß das Genie ein Genie iſt, — ſondern das Kunſtwerk vornahm, aufſtellte, mit Gründen tadelte, oder für das alte Lob welche zeigte, den Forderungen ſichere Gränzen ſteckte, und mit richtendem Blick und euthuſiaſtiſchem Bei- fall das Genie ſie erreichen ſah, und ſeine Genialität in Ruhe ließ. Glauben Sie nur nicht, ich ſähe nicht ein, daß eine jetzige Rezenſion anders ausfallen muß, als eine vor zehn oder zwölf Jahren — die immer viel bedeuten, und die letzten beſonders —, und daß die jetzigen guten, wie die früheren, ſo verſchieden ſie ſein mögen, doch immer nur anders modifi- zirte Äußerungen ein- und deſſelben Genies ſind; oder daß ich mir gewiſſe Dinge, die man jetzt ſehr in Anſchlag nimmt, und ſie in die Penſion der Vernunft giebt, und ſie mit der in der ernſteſten Geſellſchaft gehen läßt, ohne über deren Sen- timentalität mitleidig zu rümpfen, — nicht deutlich genug ge- macht habe, und alſo nicht folgen kann, wenn man davon ſpricht: o nein! Ich habe das verſtanden, was ich geleſen habe, und mit dieſer letzten Phraſis noch niemals gelogen. Aber auch was Wieland einmal ſo feſt baute, fängt ſchon bei ſeinem Leben an, Breſchen zu bekommen (ſo wüthend iſt man jetzt, alle Gebäude zu zerſtören, um ihren Grund zu unterſuchen). — „Doch neue Bahnen ſich zu brechen, heißt in

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/115>, abgerufen am 22.12.2024.