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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 3. Mannheim, 1838.

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heiten des Geschichtschreibers von Steinen unerwartet
mein eignes, lange vergessenes Geschlechtsregister wieder
vor die Augen. Französische Memoiren las ich in
Menge, auch strengere Geschichtswerke und sogenannte
philosophische Schriften. Was mich aber mehr als alles
anzog und erfreute, und mir für die ganze Folgezeit
eine Quelle tiefster Befriedigung eröffnete, war die Be¬
kanntschaft, die ich hier zuerst mit den Schriften des
Johannes Tauler machte. Ich fand eine Ausgabe nicht
nur der Predigten, von denen ich schon einige Kenntniß
hatte, sondern auch des seltneren und wichtigeren Wer¬
kes von der Nachahmung des armen Lebens Christi.
Diese mehr wissenschaftlich geordnete Darstellung der
mystischen Wahrheiten hätte mir nicht zu gelegnerer Zeit
kommen können. Ich werde später davon im Zusam¬
menhange näher zu berichten haben, und sage hier nur
so viel, daß sich mir durch dieses Buch gleichsam die
dunkeln Wände aufthaten, um mich in herrliche, weit¬
hin ausgebreitete Landschaft blicken zu lassen! --

Alles dies regte mich außerordentlich an, und ich
verbrachte nun ganze Nächte lesend und schreibend.
Hiebei jedoch konnte ich mich nicht erwehren, abermals,
wie früher in Tübingen, der örtlichen Stimmung des
Landes und der Menschen, unter denen ich lebte, durch
besondere Eindrücke inne zu werden. Das katholische
Westphalen im nördlichen Deutschland steht nämlich in
ähnlichem Verhältnisse, wie das protestantische Würtem¬

heiten des Geſchichtſchreibers von Steinen unerwartet
mein eignes, lange vergeſſenes Geſchlechtsregiſter wieder
vor die Augen. Franzoͤſiſche Memoiren las ich in
Menge, auch ſtrengere Geſchichtswerke und ſogenannte
philoſophiſche Schriften. Was mich aber mehr als alles
anzog und erfreute, und mir fuͤr die ganze Folgezeit
eine Quelle tiefſter Befriedigung eroͤffnete, war die Be¬
kanntſchaft, die ich hier zuerſt mit den Schriften des
Johannes Tauler machte. Ich fand eine Ausgabe nicht
nur der Predigten, von denen ich ſchon einige Kenntniß
hatte, ſondern auch des ſeltneren und wichtigeren Wer¬
kes von der Nachahmung des armen Lebens Chriſti.
Dieſe mehr wiſſenſchaftlich geordnete Darſtellung der
myſtiſchen Wahrheiten haͤtte mir nicht zu gelegnerer Zeit
kommen koͤnnen. Ich werde ſpaͤter davon im Zuſam¬
menhange naͤher zu berichten haben, und ſage hier nur
ſo viel, daß ſich mir durch dieſes Buch gleichſam die
dunkeln Waͤnde aufthaten, um mich in herrliche, weit¬
hin ausgebreitete Landſchaft blicken zu laſſen! —

Alles dies regte mich außerordentlich an, und ich
verbrachte nun ganze Naͤchte leſend und ſchreibend.
Hiebei jedoch konnte ich mich nicht erwehren, abermals,
wie fruͤher in Tuͤbingen, der oͤrtlichen Stimmung des
Landes und der Menſchen, unter denen ich lebte, durch
beſondere Eindruͤcke inne zu werden. Das katholiſche
Weſtphalen im noͤrdlichen Deutſchland ſteht naͤmlich in
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[146/0158] heiten des Geſchichtſchreibers von Steinen unerwartet mein eignes, lange vergeſſenes Geſchlechtsregiſter wieder vor die Augen. Franzoͤſiſche Memoiren las ich in Menge, auch ſtrengere Geſchichtswerke und ſogenannte philoſophiſche Schriften. Was mich aber mehr als alles anzog und erfreute, und mir fuͤr die ganze Folgezeit eine Quelle tiefſter Befriedigung eroͤffnete, war die Be¬ kanntſchaft, die ich hier zuerſt mit den Schriften des Johannes Tauler machte. Ich fand eine Ausgabe nicht nur der Predigten, von denen ich ſchon einige Kenntniß hatte, ſondern auch des ſeltneren und wichtigeren Wer¬ kes von der Nachahmung des armen Lebens Chriſti. Dieſe mehr wiſſenſchaftlich geordnete Darſtellung der myſtiſchen Wahrheiten haͤtte mir nicht zu gelegnerer Zeit kommen koͤnnen. Ich werde ſpaͤter davon im Zuſam¬ menhange naͤher zu berichten haben, und ſage hier nur ſo viel, daß ſich mir durch dieſes Buch gleichſam die dunkeln Waͤnde aufthaten, um mich in herrliche, weit¬ hin ausgebreitete Landſchaft blicken zu laſſen! — Alles dies regte mich außerordentlich an, und ich verbrachte nun ganze Naͤchte leſend und ſchreibend. Hiebei jedoch konnte ich mich nicht erwehren, abermals, wie fruͤher in Tuͤbingen, der oͤrtlichen Stimmung des Landes und der Menſchen, unter denen ich lebte, durch beſondere Eindruͤcke inne zu werden. Das katholiſche Weſtphalen im noͤrdlichen Deutſchland ſteht naͤmlich in aͤhnlichem Verhaͤltniſſe, wie das proteſtantiſche Wuͤrtem¬

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 3. Mannheim, 1838, S. 146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten03_1838/158>, abgerufen am 24.11.2024.