über durch die Bemerkung beseitigen wollte, daß ich erst seit einigen Monaten freie Zeit habe, mich in der neuesten Litteratur umzusehen, wunderte sich Fichte und setzte unerwartet hinzu: "Wenigstens geschafft haben Sie länger, das sieht man!" Ein bestimmtes Urtheil über meine Gedichte, um welches ich jetzt ihn zu bitten wagte, wollte er weiter nicht geben, und meinte, es liege schon in dem vorigen; sagte aber denn doch, er halte mich für den kunstreichsten der Genossen, daß aber, um Dichter zu sein, jetzt kleine lyrische Stücke nicht ausreichten, sondern man müsse ein größeres Ganze, einen Roman, ein Epos oder ein Drama geliefert ha¬ ben. Das letztere nahm ich mir tief zu Herzen, dem erstern Theil seines Spruches aber konnt' ich im Innern nicht beistimmen, als höchstens in Betreff einiger pro¬ sodischen Fertigkeit; für das Wesentliche der Poesie setzt' ich Chamisso größtentheils und Theremin unbedingt über mich.
Da August Wilhelm Schlegel zum Winter ästhetische Vorlesungen ankündigte, so ließen wir uns diese gute Gelegenheit nicht entgehen. Seine Uebersicht der deut¬ schen Dichtkunst in ihrer geschichtlichen Entwicklung, und die Beispiele, die er aus früheren Zeiten reichlich mit¬ theilte, waren mir von großem Nutzen. In den Wust von einzelnen Kenntnissen und Ansichten, die ich nach Zufall aufgehäuft, kam mehr Ordnung und Zusammen¬ hang, ich lernte auch für mein eignes Dichten festere
uͤber durch die Bemerkung beſeitigen wollte, daß ich erſt ſeit einigen Monaten freie Zeit habe, mich in der neueſten Litteratur umzuſehen, wunderte ſich Fichte und ſetzte unerwartet hinzu: „Wenigſtens geſchafft haben Sie laͤnger, das ſieht man!“ Ein beſtimmtes Urtheil uͤber meine Gedichte, um welches ich jetzt ihn zu bitten wagte, wollte er weiter nicht geben, und meinte, es liege ſchon in dem vorigen; ſagte aber denn doch, er halte mich fuͤr den kunſtreichſten der Genoſſen, daß aber, um Dichter zu ſein, jetzt kleine lyriſche Stuͤcke nicht ausreichten, ſondern man muͤſſe ein groͤßeres Ganze, einen Roman, ein Epos oder ein Drama geliefert ha¬ ben. Das letztere nahm ich mir tief zu Herzen, dem erſtern Theil ſeines Spruches aber konnt' ich im Innern nicht beiſtimmen, als hoͤchſtens in Betreff einiger pro¬ ſodiſchen Fertigkeit; fuͤr das Weſentliche der Poeſie ſetzt' ich Chamiſſo groͤßtentheils und Theremin unbedingt uͤber mich.
Da Auguſt Wilhelm Schlegel zum Winter aͤſthetiſche Vorleſungen ankuͤndigte, ſo ließen wir uns dieſe gute Gelegenheit nicht entgehen. Seine Ueberſicht der deut¬ ſchen Dichtkunſt in ihrer geſchichtlichen Entwicklung, und die Beiſpiele, die er aus fruͤheren Zeiten reichlich mit¬ theilte, waren mir von großem Nutzen. In den Wuſt von einzelnen Kenntniſſen und Anſichten, die ich nach Zufall aufgehaͤuft, kam mehr Ordnung und Zuſammen¬ hang, ich lernte auch fuͤr mein eignes Dichten feſtere
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0073"n="59"/>
uͤber durch die Bemerkung beſeitigen wollte, daß ich<lb/>
erſt ſeit einigen Monaten freie Zeit habe, mich in der<lb/>
neueſten Litteratur umzuſehen, wunderte ſich Fichte und<lb/>ſetzte unerwartet hinzu: „Wenigſtens geſchafft haben<lb/>
Sie laͤnger, das ſieht man!“ Ein beſtimmtes Urtheil<lb/>
uͤber meine Gedichte, um welches ich jetzt ihn zu bitten<lb/>
wagte, wollte er weiter nicht geben, und meinte, es<lb/>
liege ſchon in dem vorigen; ſagte aber denn doch, er<lb/>
halte mich fuͤr den kunſtreichſten der Genoſſen, daß aber,<lb/>
um Dichter zu ſein, jetzt kleine lyriſche Stuͤcke nicht<lb/>
ausreichten, ſondern man muͤſſe ein groͤßeres Ganze,<lb/>
einen Roman, ein Epos oder ein Drama geliefert ha¬<lb/>
ben. Das letztere nahm ich mir tief zu Herzen, dem<lb/>
erſtern Theil ſeines Spruches aber konnt' ich im Innern<lb/>
nicht beiſtimmen, als hoͤchſtens in Betreff einiger pro¬<lb/>ſodiſchen Fertigkeit; fuͤr das Weſentliche der Poeſie ſetzt'<lb/>
ich Chamiſſo groͤßtentheils und Theremin unbedingt<lb/>
uͤber mich.</p><lb/><p>Da Auguſt Wilhelm Schlegel zum Winter aͤſthetiſche<lb/>
Vorleſungen ankuͤndigte, ſo ließen wir uns dieſe gute<lb/>
Gelegenheit nicht entgehen. Seine Ueberſicht der deut¬<lb/>ſchen Dichtkunſt in ihrer geſchichtlichen Entwicklung, und<lb/>
die Beiſpiele, die er aus fruͤheren Zeiten reichlich mit¬<lb/>
theilte, waren mir von großem Nutzen. In den Wuſt<lb/>
von einzelnen Kenntniſſen und Anſichten, die ich nach<lb/>
Zufall aufgehaͤuft, kam mehr Ordnung und Zuſammen¬<lb/>
hang, ich lernte auch fuͤr mein eignes Dichten feſtere<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[59/0073]
uͤber durch die Bemerkung beſeitigen wollte, daß ich
erſt ſeit einigen Monaten freie Zeit habe, mich in der
neueſten Litteratur umzuſehen, wunderte ſich Fichte und
ſetzte unerwartet hinzu: „Wenigſtens geſchafft haben
Sie laͤnger, das ſieht man!“ Ein beſtimmtes Urtheil
uͤber meine Gedichte, um welches ich jetzt ihn zu bitten
wagte, wollte er weiter nicht geben, und meinte, es
liege ſchon in dem vorigen; ſagte aber denn doch, er
halte mich fuͤr den kunſtreichſten der Genoſſen, daß aber,
um Dichter zu ſein, jetzt kleine lyriſche Stuͤcke nicht
ausreichten, ſondern man muͤſſe ein groͤßeres Ganze,
einen Roman, ein Epos oder ein Drama geliefert ha¬
ben. Das letztere nahm ich mir tief zu Herzen, dem
erſtern Theil ſeines Spruches aber konnt' ich im Innern
nicht beiſtimmen, als hoͤchſtens in Betreff einiger pro¬
ſodiſchen Fertigkeit; fuͤr das Weſentliche der Poeſie ſetzt'
ich Chamiſſo groͤßtentheils und Theremin unbedingt
uͤber mich.
Da Auguſt Wilhelm Schlegel zum Winter aͤſthetiſche
Vorleſungen ankuͤndigte, ſo ließen wir uns dieſe gute
Gelegenheit nicht entgehen. Seine Ueberſicht der deut¬
ſchen Dichtkunſt in ihrer geſchichtlichen Entwicklung, und
die Beiſpiele, die er aus fruͤheren Zeiten reichlich mit¬
theilte, waren mir von großem Nutzen. In den Wuſt
von einzelnen Kenntniſſen und Anſichten, die ich nach
Zufall aufgehaͤuft, kam mehr Ordnung und Zuſammen¬
hang, ich lernte auch fuͤr mein eignes Dichten feſtere
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 2. Mannheim, 1837, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837/73>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.