Während der ersten Zeit schlief ich nach dem Gar¬ ten hinaus, in einem Saale, der als physikalisches Ka¬ binet diente. Mit dem frühsten Tage, vom Glanze der bewegten Wipfel, von den Stimmen der Vögel, dem erquickenden Morgenhauche getroffen, stand ich lebens¬ froh auf, eilte in das thauige Grün, frühstückte dort oder am offenen Fenster des Bibliothekzimmers, und hatte mit wechselndem Entzücken schon viel gelustwandelt und gelesen, wenn nach und nach das übrige Haus erschien, und die Geschäfte und Pflichten des Tages sich mahnend einstellten. -- Fast kein Tag verging ohne Gesellschaft, theils in der Stadt, theils auf dem Lande. Graf Alexander zur Lippe, Professor Darbes, Graf Casa-Valencia von der spanischen Gesandtschaft, die herrliche Sängerin Marchetti-Fantozzi nebst dem italiä¬ nischen Dichter Filistri, lernte ich in diesem Kreise kennen, auch dem damals jugendlichen und geistesregen Adam Müller und der von ihm geführten Madame San¬ der, die als schöne Frau durch den Ruf mir schon be¬ kannt war, begegnete ich hier zuerst, nicht ohne wech¬ selseitige Anziehung. -- Graf Alexander zur Lippe, edel, zartsinnig, gebildeten und strebenden Geistes, aber auch wirrköpfig, einbilderisch und abschweifend, lebte in em¬ pfindsamster Seelenschwingung, und verbreitete Rührung und Innigkeit um sich her, die aber bei leisen Anlässen wunderlich aus der unbefriedigten Spannung auch in Schärfe und Säure umschlugen, womit er sich und
Waͤhrend der erſten Zeit ſchlief ich nach dem Gar¬ ten hinaus, in einem Saale, der als phyſikaliſches Ka¬ binet diente. Mit dem fruͤhſten Tage, vom Glanze der bewegten Wipfel, von den Stimmen der Voͤgel, dem erquickenden Morgenhauche getroffen, ſtand ich lebens¬ froh auf, eilte in das thauige Gruͤn, fruͤhſtuͤckte dort oder am offenen Fenſter des Bibliothekzimmers, und hatte mit wechſelndem Entzuͤcken ſchon viel geluſtwandelt und geleſen, wenn nach und nach das uͤbrige Haus erſchien, und die Geſchaͤfte und Pflichten des Tages ſich mahnend einſtellten. — Faſt kein Tag verging ohne Geſellſchaft, theils in der Stadt, theils auf dem Lande. Graf Alexander zur Lippe, Profeſſor Darbes, Graf Caſa-Valencia von der ſpaniſchen Geſandtſchaft, die herrliche Saͤngerin Marchetti-Fantozzi nebſt dem italiaͤ¬ niſchen Dichter Filiſtri, lernte ich in dieſem Kreiſe kennen, auch dem damals jugendlichen und geiſtesregen Adam Muͤller und der von ihm gefuͤhrten Madame San¬ der, die als ſchoͤne Frau durch den Ruf mir ſchon be¬ kannt war, begegnete ich hier zuerſt, nicht ohne wech¬ ſelſeitige Anziehung. — Graf Alexander zur Lippe, edel, zartſinnig, gebildeten und ſtrebenden Geiſtes, aber auch wirrkoͤpfig, einbilderiſch und abſchweifend, lebte in em¬ pfindſamſter Seelenſchwingung, und verbreitete Ruͤhrung und Innigkeit um ſich her, die aber bei leiſen Anlaͤſſen wunderlich aus der unbefriedigten Spannung auch in Schaͤrfe und Saͤure umſchlugen, womit er ſich und
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Waͤhrend der erſten Zeit ſchlief ich nach dem Gar¬
ten hinaus, in einem Saale, der als phyſikaliſches Ka¬
binet diente. Mit dem fruͤhſten Tage, vom Glanze der
bewegten Wipfel, von den Stimmen der Voͤgel, dem
erquickenden Morgenhauche getroffen, ſtand ich lebens¬
froh auf, eilte in das thauige Gruͤn, fruͤhſtuͤckte dort
oder am offenen Fenſter des Bibliothekzimmers, und
hatte mit wechſelndem Entzuͤcken ſchon viel geluſtwandelt
und geleſen, wenn nach und nach das uͤbrige Haus
erſchien, und die Geſchaͤfte und Pflichten des Tages ſich
mahnend einſtellten. — Faſt kein Tag verging ohne
Geſellſchaft, theils in der Stadt, theils auf dem Lande.
Graf Alexander zur Lippe, Profeſſor Darbes, Graf
Caſa-Valencia von der ſpaniſchen Geſandtſchaft, die
herrliche Saͤngerin Marchetti-Fantozzi nebſt dem italiaͤ¬
niſchen Dichter Filiſtri, lernte ich in dieſem Kreiſe
kennen, auch dem damals jugendlichen und geiſtesregen
Adam Muͤller und der von ihm gefuͤhrten Madame San¬
der, die als ſchoͤne Frau durch den Ruf mir ſchon be¬
kannt war, begegnete ich hier zuerſt, nicht ohne wech¬
ſelſeitige Anziehung. — Graf Alexander zur Lippe, edel,
zartſinnig, gebildeten und ſtrebenden Geiſtes, aber auch
wirrkoͤpfig, einbilderiſch und abſchweifend, lebte in em¬
pfindſamſter Seelenſchwingung, und verbreitete Ruͤhrung
und Innigkeit um ſich her, die aber bei leiſen Anlaͤſſen
wunderlich aus der unbefriedigten Spannung auch in
Schaͤrfe und Saͤure umſchlugen, womit er ſich und
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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 2. Mannheim, 1837, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837/41>, abgerufen am 21.11.2024.
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