sten Stoff in den schönsten Formen und Massen mit¬ theilt, und gleichsam die beiden Endpunkte der Poesie zusammenschlingt; denn der Stoff ist ganz in dem Ele¬ mente seiner ursprünglichen Naivetät und Unschuld, seiner idyllischen und lyrischen Naturfrische verblieben, und zugleich ist die Darstellung mit aller Kraft und Ueber¬ legenheit der höchsten, bewußten und reifen Kunst¬ schöpfung ausgerüstet. Achtzigjährige Weisheit und Uebersicht und fünfundzwanzigjähriges Feuer der Empfin¬ dung und des Geistes sind hier in lieblicher Gemein¬ schaft gegenwärtig, und beleben einander wechselseitig. Diese so zarten als gediegenen Blätter bilden in dieser Art ein Kleinod, das wahrhaft als einzig zu schätzen ist, dem keine Litteratur etwas Gleiches zur Seite zu stellen hat. An Schönheit und Macht der Schilderung solcher innigen, lebenvollen und dabei flüchtigen Zustände können nur einige der herrlichsten Blätter von J.J.Rous¬ seau neben diesen noch zu nennen sein, aber an Geist und Reife schon nicht. Die Feier des Geburtstages von Lilli, die träumerische Wandernacht Goethe's und andre solche Vorgänge, sind beinah scenische Idyllen mit plastischer und musikalischer Ausstattung geworden, und jeder Umstand und Bezug dieser glücklichen Tage ist in den goldnen Worten des Dichters zu einem selbst¬ ständigen kleinen Kunstwerk ausgeprägt. Die schon bekannten Lieder erscheinen fast neu, so sehr gewin¬ nen sie selbst durch den Ort, wo sie nun stehen, und
ſten Stoff in den ſchoͤnſten Formen und Maſſen mit¬ theilt, und gleichſam die beiden Endpunkte der Poeſie zuſammenſchlingt; denn der Stoff iſt ganz in dem Ele¬ mente ſeiner urſpruͤnglichen Naivetaͤt und Unſchuld, ſeiner idylliſchen und lyriſchen Naturfriſche verblieben, und zugleich iſt die Darſtellung mit aller Kraft und Ueber¬ legenheit der hoͤchſten, bewußten und reifen Kunſt¬ ſchoͤpfung ausgeruͤſtet. Achtzigjaͤhrige Weisheit und Ueberſicht und fuͤnfundzwanzigjaͤhriges Feuer der Empfin¬ dung und des Geiſtes ſind hier in lieblicher Gemein¬ ſchaft gegenwaͤrtig, und beleben einander wechſelſeitig. Dieſe ſo zarten als gediegenen Blaͤtter bilden in dieſer Art ein Kleinod, das wahrhaft als einzig zu ſchaͤtzen iſt, dem keine Litteratur etwas Gleiches zur Seite zu ſtellen hat. An Schoͤnheit und Macht der Schilderung ſolcher innigen, lebenvollen und dabei fluͤchtigen Zuſtaͤnde koͤnnen nur einige der herrlichſten Blaͤtter von J.J.Rouſ¬ ſeau neben dieſen noch zu nennen ſein, aber an Geiſt und Reife ſchon nicht. Die Feier des Geburtstages von Lilli, die traͤumeriſche Wandernacht Goethe’s und andre ſolche Vorgaͤnge, ſind beinah ſceniſche Idyllen mit plaſtiſcher und muſikaliſcher Ausſtattung geworden, und jeder Umſtand und Bezug dieſer gluͤcklichen Tage iſt in den goldnen Worten des Dichters zu einem ſelbſt¬ ſtaͤndigen kleinen Kunſtwerk ausgepraͤgt. Die ſchon bekannten Lieder erſcheinen faſt neu, ſo ſehr gewin¬ nen ſie ſelbſt durch den Ort, wo ſie nun ſtehen, und
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ſten Stoff in den ſchoͤnſten Formen und Maſſen mit¬
theilt, und gleichſam die beiden Endpunkte der Poeſie
zuſammenſchlingt; denn der Stoff iſt ganz in dem Ele¬
mente ſeiner urſpruͤnglichen Naivetaͤt und Unſchuld, ſeiner
idylliſchen und lyriſchen Naturfriſche verblieben, und
zugleich iſt die Darſtellung mit aller Kraft und Ueber¬
legenheit der hoͤchſten, bewußten und reifen Kunſt¬
ſchoͤpfung ausgeruͤſtet. Achtzigjaͤhrige Weisheit und
Ueberſicht und fuͤnfundzwanzigjaͤhriges Feuer der Empfin¬
dung und des Geiſtes ſind hier in lieblicher Gemein¬
ſchaft gegenwaͤrtig, und beleben einander wechſelſeitig.
Dieſe ſo zarten als gediegenen Blaͤtter bilden in dieſer
Art ein Kleinod, das wahrhaft als einzig zu ſchaͤtzen
iſt, dem keine Litteratur etwas Gleiches zur Seite zu
ſtellen hat. An Schoͤnheit und Macht der Schilderung
ſolcher innigen, lebenvollen und dabei fluͤchtigen Zuſtaͤnde
koͤnnen nur einige der herrlichſten Blaͤtter von J.J.Rouſ¬
ſeau neben dieſen noch zu nennen ſein, aber an Geiſt
und Reife ſchon nicht. Die Feier des Geburtstages von
Lilli, die traͤumeriſche Wandernacht Goethe’s und andre
ſolche Vorgaͤnge, ſind beinah ſceniſche Idyllen mit
plaſtiſcher und muſikaliſcher Ausſtattung geworden, und
jeder Umſtand und Bezug dieſer gluͤcklichen Tage iſt
in den goldnen Worten des Dichters zu einem ſelbſt¬
ſtaͤndigen kleinen Kunſtwerk ausgepraͤgt. Die ſchon
bekannten Lieder erſcheinen faſt neu, ſo ſehr gewin¬
nen ſie ſelbſt durch den Ort, wo ſie nun ſtehen, und
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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 2. Mannheim, 1837, S. 317. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837/331>, abgerufen am 26.11.2024.
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