Civilist, vortrefflich angezogen, frei und gewandt mehr ausweichend als vordringend, nach eignem Sinne auf¬ merksam und träumerisch, in seinen unwillkürlichen Aeußerungen meist überraschend original und launig, und von seiner Stimmung oder seinem Standpunkt aus auch gründlich wahr. Ich hatte von ihm schon oft und mancherlei gehört, jetzt konnte ich die fremden Urtheile an ihm selber messen. Nächst einigen andern Personen, worunter ein gutmüthiger französischer Offizier, Kapitain Bribes als Einquartirung, erschien auch un¬ vermuthet noch Frau von Boye, die als freundliche Bekannte für mich unter so vielen Fremden vermittelnd wirkte. Die Gesellschaft war ungemein belebt, in größter Freiheit und Behaglichkeit; jeder gab sich als das, was er sein konnte, es war kein Grund noch Hoffnung des Gelingens, hier irgend einen Schein zu heucheln; die Unbefangenheit und gute Laune Rahel's, ihr Geist der Wahrheit und des Geltenlassens, walteten ungestört; ich durfte mich mit jugendlicher Uebertreibung gegen die Franzosen ereifern, ein Andrer seine theatralischen Mittheilungen auskramen; der Franzose empfing in seinen Liebesangelegenheiten launigen Rath von Schack, und diesen ließ der Civilist seine heftig demokratischen Gesinnungen anhören; alles ging leicht und harmlos dahin, jeder zu herbe Ernst wurde von Witz und Scherz aufgefangen, die ihrerseits wieder, bevor sie ausarten konnten, von Wahrheit und Verstand ergriffen wurden,
II. 11
Civiliſt, vortrefflich angezogen, frei und gewandt mehr ausweichend als vordringend, nach eignem Sinne auf¬ merkſam und traͤumeriſch, in ſeinen unwillkuͤrlichen Aeußerungen meiſt uͤberraſchend original und launig, und von ſeiner Stimmung oder ſeinem Standpunkt aus auch gruͤndlich wahr. Ich hatte von ihm ſchon oft und mancherlei gehoͤrt, jetzt konnte ich die fremden Urtheile an ihm ſelber meſſen. Naͤchſt einigen andern Perſonen, worunter ein gutmuͤthiger franzoͤſiſcher Offizier, Kapitain Bribes als Einquartirung, erſchien auch un¬ vermuthet noch Frau von Boye, die als freundliche Bekannte fuͤr mich unter ſo vielen Fremden vermittelnd wirkte. Die Geſellſchaft war ungemein belebt, in groͤßter Freiheit und Behaglichkeit; jeder gab ſich als das, was er ſein konnte, es war kein Grund noch Hoffnung des Gelingens, hier irgend einen Schein zu heucheln; die Unbefangenheit und gute Laune Rahel's, ihr Geiſt der Wahrheit und des Geltenlaſſens, walteten ungeſtoͤrt; ich durfte mich mit jugendlicher Uebertreibung gegen die Franzoſen ereifern, ein Andrer ſeine theatraliſchen Mittheilungen auskramen; der Franzoſe empfing in ſeinen Liebesangelegenheiten launigen Rath von Schack, und dieſen ließ der Civiliſt ſeine heftig demokratiſchen Geſinnungen anhoͤren; alles ging leicht und harmlos dahin, jeder zu herbe Ernſt wurde von Witz und Scherz aufgefangen, die ihrerſeits wieder, bevor ſie ausarten konnten, von Wahrheit und Verſtand ergriffen wurden,
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Civiliſt, vortrefflich angezogen, frei und gewandt mehr
ausweichend als vordringend, nach eignem Sinne auf¬
merkſam und traͤumeriſch, in ſeinen unwillkuͤrlichen
Aeußerungen meiſt uͤberraſchend original und launig,
und von ſeiner Stimmung oder ſeinem Standpunkt
aus auch gruͤndlich wahr. Ich hatte von ihm ſchon
oft und mancherlei gehoͤrt, jetzt konnte ich die fremden
Urtheile an ihm ſelber meſſen. Naͤchſt einigen andern
Perſonen, worunter ein gutmuͤthiger franzoͤſiſcher Offizier,
Kapitain Bribes als Einquartirung, erſchien auch un¬
vermuthet noch Frau von Boye, die als freundliche
Bekannte fuͤr mich unter ſo vielen Fremden vermittelnd
wirkte. Die Geſellſchaft war ungemein belebt, in groͤßter
Freiheit und Behaglichkeit; jeder gab ſich als das, was
er ſein konnte, es war kein Grund noch Hoffnung des
Gelingens, hier irgend einen Schein zu heucheln; die
Unbefangenheit und gute Laune Rahel's, ihr Geiſt der
Wahrheit und des Geltenlaſſens, walteten ungeſtoͤrt;
ich durfte mich mit jugendlicher Uebertreibung gegen
die Franzoſen ereifern, ein Andrer ſeine theatraliſchen
Mittheilungen auskramen; der Franzoſe empfing in
ſeinen Liebesangelegenheiten launigen Rath von Schack,
und dieſen ließ der Civiliſt ſeine heftig demokratiſchen
Geſinnungen anhoͤren; alles ging leicht und harmlos
dahin, jeder zu herbe Ernſt wurde von Witz und Scherz
aufgefangen, die ihrerſeits wieder, bevor ſie ausarten
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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 2. Mannheim, 1837, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837/175>, abgerufen am 24.11.2024.
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