Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 2. Mannheim, 1837.

Bild:
<< vorherige Seite

Glauben, mit welchem sie sich noch trug, entbehren zu
können, und was dann übrig blieb an guten Lehren
und Bildern, pflegte wahrlich trocken und nüchtern
genug zu sein. In dem Zwiespalte der Vernünftelei
dieser Kirche und des Aberglaubens der katholischen
schien das religiöse Gebilde völlig entschwunden; das
Reinsittliche konnte ohne solche Unterlage für sich recht
gut bestehen, und die Gottergebenheit war auch aus
der Philosophie herzuleiten, womit die vorchristlichen
Weisen der Griechen und Römer sich ohnehin hatten
behelfen müssen. Die geschichtlichen Gestalten der welt¬
lichen Erscheinungen des Christenthums durften am
wenigstens anziehen, sie hatten zu der verkündigten
Liebe nur allzu oft kein andres Verhältniß, als die
Schreckenszeit der französischen Revolution zu den Ver¬
heißungen der Freiheit und Gleichheit, und es war fast
allgemein die Ansicht verbreitet, daß alles Hierarchische
sich überlebt habe und völlig weichen müsse, während
der geistige Hauch und die liebliche Wärme der ursprüng¬
lichen Liebe freilich zu ewigem Fortwirken berufen seien.
In diesem Sinne verfuhr auch Schleiermacher, und
sein unverhohlenes Bestreben ging hauptsächlich dahin¬
aus, die Religionslehre von dem Buchstaben der Bibel
ganz unabhängig zu machen. Durch meine fortgesetzte
Aufmerksamkeit bei Schleiermacher und durch die nach¬
ziehende Macht seiner Lehrweise fand ich mich hier zum
erstenmal aus der weiten Breite meiner Religionsan¬

Glauben, mit welchem ſie ſich noch trug, entbehren zu
koͤnnen, und was dann uͤbrig blieb an guten Lehren
und Bildern, pflegte wahrlich trocken und nuͤchtern
genug zu ſein. In dem Zwieſpalte der Vernuͤnftelei
dieſer Kirche und des Aberglaubens der katholiſchen
ſchien das religioͤſe Gebilde voͤllig entſchwunden; das
Reinſittliche konnte ohne ſolche Unterlage fuͤr ſich recht
gut beſtehen, und die Gottergebenheit war auch aus
der Philoſophie herzuleiten, womit die vorchriſtlichen
Weiſen der Griechen und Roͤmer ſich ohnehin hatten
behelfen muͤſſen. Die geſchichtlichen Geſtalten der welt¬
lichen Erſcheinungen des Chriſtenthums durften am
wenigſtens anziehen, ſie hatten zu der verkuͤndigten
Liebe nur allzu oft kein andres Verhaͤltniß, als die
Schreckenszeit der franzoͤſiſchen Revolution zu den Ver¬
heißungen der Freiheit und Gleichheit, und es war faſt
allgemein die Anſicht verbreitet, daß alles Hierarchiſche
ſich uͤberlebt habe und voͤllig weichen muͤſſe, waͤhrend
der geiſtige Hauch und die liebliche Waͤrme der urſpruͤng¬
lichen Liebe freilich zu ewigem Fortwirken berufen ſeien.
In dieſem Sinne verfuhr auch Schleiermacher, und
ſein unverhohlenes Beſtreben ging hauptſaͤchlich dahin¬
aus, die Religionslehre von dem Buchſtaben der Bibel
ganz unabhaͤngig zu machen. Durch meine fortgeſetzte
Aufmerkſamkeit bei Schleiermacher und durch die nach¬
ziehende Macht ſeiner Lehrweiſe fand ich mich hier zum
erſtenmal aus der weiten Breite meiner Religionsan¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0130" n="116"/>
Glauben, mit welchem &#x017F;ie &#x017F;ich noch trug, entbehren zu<lb/>
ko&#x0364;nnen, und was dann u&#x0364;brig blieb an guten Lehren<lb/>
und Bildern, pflegte wahrlich trocken und nu&#x0364;chtern<lb/>
genug zu &#x017F;ein. In dem Zwie&#x017F;palte der Vernu&#x0364;nftelei<lb/>
die&#x017F;er Kirche und des Aberglaubens der katholi&#x017F;chen<lb/>
&#x017F;chien das religio&#x0364;&#x017F;e Gebilde vo&#x0364;llig ent&#x017F;chwunden; das<lb/>
Rein&#x017F;ittliche konnte ohne &#x017F;olche Unterlage fu&#x0364;r &#x017F;ich recht<lb/>
gut be&#x017F;tehen, und die Gottergebenheit war auch aus<lb/>
der Philo&#x017F;ophie herzuleiten, womit die vorchri&#x017F;tlichen<lb/>
Wei&#x017F;en der Griechen und Ro&#x0364;mer &#x017F;ich ohnehin hatten<lb/>
behelfen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en. Die ge&#x017F;chichtlichen Ge&#x017F;talten der welt¬<lb/>
lichen Er&#x017F;cheinungen des Chri&#x017F;tenthums durften am<lb/>
wenig&#x017F;tens anziehen, &#x017F;ie hatten zu der verku&#x0364;ndigten<lb/>
Liebe nur allzu oft kein andres Verha&#x0364;ltniß, als die<lb/>
Schreckenszeit der franzo&#x0364;&#x017F;i&#x017F;chen Revolution zu den Ver¬<lb/>
heißungen der Freiheit und Gleichheit, und es war fa&#x017F;t<lb/>
allgemein die An&#x017F;icht verbreitet, daß alles Hierarchi&#x017F;che<lb/>
&#x017F;ich u&#x0364;berlebt habe und vo&#x0364;llig weichen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e, wa&#x0364;hrend<lb/>
der gei&#x017F;tige Hauch und die liebliche Wa&#x0364;rme der ur&#x017F;pru&#x0364;ng¬<lb/>
lichen Liebe freilich zu ewigem Fortwirken berufen &#x017F;eien.<lb/>
In die&#x017F;em Sinne verfuhr auch Schleiermacher, und<lb/>
&#x017F;ein unverhohlenes Be&#x017F;treben ging haupt&#x017F;a&#x0364;chlich dahin¬<lb/>
aus, die Religionslehre von dem Buch&#x017F;taben der Bibel<lb/>
ganz unabha&#x0364;ngig zu machen. Durch meine fortge&#x017F;etzte<lb/>
Aufmerk&#x017F;amkeit bei Schleiermacher und durch die nach¬<lb/>
ziehende Macht &#x017F;einer Lehrwei&#x017F;e fand ich mich hier zum<lb/>
er&#x017F;tenmal aus der weiten Breite meiner Religionsan¬<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[116/0130] Glauben, mit welchem ſie ſich noch trug, entbehren zu koͤnnen, und was dann uͤbrig blieb an guten Lehren und Bildern, pflegte wahrlich trocken und nuͤchtern genug zu ſein. In dem Zwieſpalte der Vernuͤnftelei dieſer Kirche und des Aberglaubens der katholiſchen ſchien das religioͤſe Gebilde voͤllig entſchwunden; das Reinſittliche konnte ohne ſolche Unterlage fuͤr ſich recht gut beſtehen, und die Gottergebenheit war auch aus der Philoſophie herzuleiten, womit die vorchriſtlichen Weiſen der Griechen und Roͤmer ſich ohnehin hatten behelfen muͤſſen. Die geſchichtlichen Geſtalten der welt¬ lichen Erſcheinungen des Chriſtenthums durften am wenigſtens anziehen, ſie hatten zu der verkuͤndigten Liebe nur allzu oft kein andres Verhaͤltniß, als die Schreckenszeit der franzoͤſiſchen Revolution zu den Ver¬ heißungen der Freiheit und Gleichheit, und es war faſt allgemein die Anſicht verbreitet, daß alles Hierarchiſche ſich uͤberlebt habe und voͤllig weichen muͤſſe, waͤhrend der geiſtige Hauch und die liebliche Waͤrme der urſpruͤng¬ lichen Liebe freilich zu ewigem Fortwirken berufen ſeien. In dieſem Sinne verfuhr auch Schleiermacher, und ſein unverhohlenes Beſtreben ging hauptſaͤchlich dahin¬ aus, die Religionslehre von dem Buchſtaben der Bibel ganz unabhaͤngig zu machen. Durch meine fortgeſetzte Aufmerkſamkeit bei Schleiermacher und durch die nach¬ ziehende Macht ſeiner Lehrweiſe fand ich mich hier zum erſtenmal aus der weiten Breite meiner Religionsan¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837/130
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 2. Mannheim, 1837, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837/130>, abgerufen am 24.11.2024.