Die Stael ist ein Genie. Eine außerordentliche, excentrische Frau in allem was sie macht und thut. Sie schläft nur wenige Stunden, und ist die ganze übrige Zeit hindurch in einer unun¬ terbrochenen fürchterlichen Thätigkeit. Ihre Reden sind Abhand¬ lungen, oder eine zusammengehäufte Masse von Laune und Witz. Sie kann nur nicht alltägliche Leute um sich leiden. Während sie frisirt wird, während sie frühstückt, -- im Ganzen genom¬ men ein Drittel von jedem Tag bringt sie mit Schreiben zu. Sie hat nicht Ruhe genug, um das Geschriebene wieder vorzuneh¬ men, um auszubessern, um zu vollenden; aber selbst die rohen Ausgüsse ihrer unablässig gedrängtvollen Seele sind von dem äußersten Interesse, und enthalten Bruchstücke voll des feinsten Scharfsinns und der lebendigsten Kraft. Sie hat mehrere Werke von sehr ernstem Inhalte fertig zum Druck liegen, und arbeitet immer noch fort. Ich habe manches von ihren Sachen gelesen, indem sie's schrieb. Ihre Briefe über Rousseau, herausgegeben, als sie siebzehn Jahr alt war, sind bekannt. Sie hat manche Fehler, aber auch manches, das bei Andern Fehler sein würde, ist bei ihr keiner. Sie erfordert ihren eignen Maßstab.
Sie ist ziemlich gut gewachsen, aber ihr Gesicht ist nicht schön. Sie ist ein bischen kupferig und hat einen etwas aufge¬ worfenen Mund. Sie ist nichts weniger als eitel. Sie hat durchaus nicht das Ansehen einer gelehrten Frau. Sie hat ein offenherzig freimüthiges, ganz ungezwungenes und durch einen gewissen Karakter von Biederkeit und Wahrheit sehr für sie ein¬ nehmendes Wesen. Sie thut sich durchaus nichts auf ihr Wissen zu Gute, und ich habe sie sehr naiv sagen hören: "Einem Manne gegenüber, der nur Geist hat, behaupt' ich mich; einem gegen¬ über, der nur unterrichtet ist, auch; aber wer beides verbindet, läßt mich fühlen, daß ich doch nur ein Weib bin!"
Die Staël iſt ein Genie. Eine außerordentliche, excentriſche Frau in allem was ſie macht und thut. Sie ſchlaͤft nur wenige Stunden, und iſt die ganze uͤbrige Zeit hindurch in einer unun¬ terbrochenen fuͤrchterlichen Thaͤtigkeit. Ihre Reden ſind Abhand¬ lungen, oder eine zuſammengehaͤufte Maſſe von Laune und Witz. Sie kann nur nicht alltaͤgliche Leute um ſich leiden. Waͤhrend ſie friſirt wird, waͤhrend ſie fruͤhſtuͤckt, — im Ganzen genom¬ men ein Drittel von jedem Tag bringt ſie mit Schreiben zu. Sie hat nicht Ruhe genug, um das Geſchriebene wieder vorzuneh¬ men, um auszubeſſern, um zu vollenden; aber ſelbſt die rohen Ausguͤſſe ihrer unablaͤſſig gedraͤngtvollen Seele ſind von dem aͤußerſten Intereſſe, und enthalten Bruchſtuͤcke voll des feinſten Scharfſinns und der lebendigſten Kraft. Sie hat mehrere Werke von ſehr ernſtem Inhalte fertig zum Druck liegen, und arbeitet immer noch fort. Ich habe manches von ihren Sachen geleſen, indem ſie's ſchrieb. Ihre Briefe uͤber Rouſſeau, herausgegeben, als ſie ſiebzehn Jahr alt war, ſind bekannt. Sie hat manche Fehler, aber auch manches, das bei Andern Fehler ſein wuͤrde, iſt bei ihr keiner. Sie erfordert ihren eignen Maßſtab.
Sie iſt ziemlich gut gewachſen, aber ihr Geſicht iſt nicht ſchoͤn. Sie iſt ein bischen kupferig und hat einen etwas aufge¬ worfenen Mund. Sie iſt nichts weniger als eitel. Sie hat durchaus nicht das Anſehen einer gelehrten Frau. Sie hat ein offenherzig freimuͤthiges, ganz ungezwungenes und durch einen gewiſſen Karakter von Biederkeit und Wahrheit ſehr fuͤr ſie ein¬ nehmendes Weſen. Sie thut ſich durchaus nichts auf ihr Wiſſen zu Gute, und ich habe ſie ſehr naiv ſagen hoͤren: „Einem Manne gegenuͤber, der nur Geiſt hat, behaupt' ich mich; einem gegen¬ uͤber, der nur unterrichtet iſt, auch; aber wer beides verbindet, laͤßt mich fuͤhlen, daß ich doch nur ein Weib bin!“
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Die Staël iſt ein Genie. Eine außerordentliche, excentriſche
Frau in allem was ſie macht und thut. Sie ſchlaͤft nur wenige
Stunden, und iſt die ganze uͤbrige Zeit hindurch in einer unun¬
terbrochenen fuͤrchterlichen Thaͤtigkeit. Ihre Reden ſind Abhand¬
lungen, oder eine zuſammengehaͤufte Maſſe von Laune und Witz.
Sie kann nur nicht alltaͤgliche Leute um ſich leiden. Waͤhrend
ſie friſirt wird, waͤhrend ſie fruͤhſtuͤckt, — im Ganzen genom¬
men ein Drittel von jedem Tag bringt ſie mit Schreiben zu.
Sie hat nicht Ruhe genug, um das Geſchriebene wieder vorzuneh¬
men, um auszubeſſern, um zu vollenden; aber ſelbſt die rohen
Ausguͤſſe ihrer unablaͤſſig gedraͤngtvollen Seele ſind von dem
aͤußerſten Intereſſe, und enthalten Bruchſtuͤcke voll des feinſten
Scharfſinns und der lebendigſten Kraft. Sie hat mehrere Werke
von ſehr ernſtem Inhalte fertig zum Druck liegen, und arbeitet
immer noch fort. Ich habe manches von ihren Sachen geleſen,
indem ſie's ſchrieb. Ihre Briefe uͤber Rouſſeau, herausgegeben,
als ſie ſiebzehn Jahr alt war, ſind bekannt. Sie hat manche
Fehler, aber auch manches, das bei Andern Fehler ſein wuͤrde,
iſt bei ihr keiner. Sie erfordert ihren eignen Maßſtab.
Sie iſt ziemlich gut gewachſen, aber ihr Geſicht iſt nicht
ſchoͤn. Sie iſt ein bischen kupferig und hat einen etwas aufge¬
worfenen Mund. Sie iſt nichts weniger als eitel. Sie hat
durchaus nicht das Anſehen einer gelehrten Frau. Sie hat ein
offenherzig freimuͤthiges, ganz ungezwungenes und durch einen
gewiſſen Karakter von Biederkeit und Wahrheit ſehr fuͤr ſie ein¬
nehmendes Weſen. Sie thut ſich durchaus nichts auf ihr Wiſſen
zu Gute, und ich habe ſie ſehr naiv ſagen hoͤren: „Einem Manne
gegenuͤber, der nur Geiſt hat, behaupt' ich mich; einem gegen¬
uͤber, der nur unterrichtet iſt, auch; aber wer beides verbindet,
laͤßt mich fuͤhlen, daß ich doch nur ein Weib bin!“
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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/76>, abgerufen am 24.11.2024.
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