der gegebenen Bedingnisse aufzustellen. Es war nämlich nicht die Aufgabe, eine religiöse Heldin, eine begeisterte Prophetin oder Märtyrerin zu schildern, sondern nur ein stilles Leben, ein Leben, das auf der gewöhnlichsten Weltlichkeit ruht, aber dennoch in der Frömmigkeit den Mittelpunkt findet, der es den höchsten Lebensentwick¬ lungen gleichstellt; Wilhelm von Humboldt hat Unrecht, die Schranken, in welche der Dichter seine Schilderung zusammenfaßt, als eine Beschränktheit der geschilderten Person anzusehen, wie er dies in einem Briefe an an Schiller thut. Ueber Fräulein von Klettenberg hat sich eine mündliche Erzählung erhalten, die merkwürdig ist. Was in den Bekenntnissen einer schönen Seele von einem ausgezeichneten Manne, der dort mit dem Namen Narciß bezeichnet ist, und von seinem Verhält¬ nisse zu der schönen Seele gesagt wird, beruht auf thatsächlichen Erlebnissen, die durch dichterische Einklei¬ dung nur wenig ausgeführt worden. Der Mann, welcher Fräulein von Klettenberg heirathen wollte, und mehrere Jahre als ihr Bräutigam in ihrer Nähe lebte, war ein Herr von Olenschlager, ein geborner Frank¬ furter. Fräulein von Klettenberg hatte seinen Karakter früh durchschaut, und wußte es lange vorher, daß er sich von ihr ganz zurückziehen werde. Sie sprach dies auch mehrmals unbefangen gegen ihn aus, und bat ihn nur um die einzige Aufrichtigkeit, daß er es ihr nicht verhehlen möchte, wenn er einem andern Frauenzimmer
der gegebenen Bedingniſſe aufzuſtellen. Es war naͤmlich nicht die Aufgabe, eine religioͤſe Heldin, eine begeiſterte Prophetin oder Maͤrtyrerin zu ſchildern, ſondern nur ein ſtilles Leben, ein Leben, das auf der gewoͤhnlichſten Weltlichkeit ruht, aber dennoch in der Froͤmmigkeit den Mittelpunkt findet, der es den hoͤchſten Lebensentwick¬ lungen gleichſtellt; Wilhelm von Humboldt hat Unrecht, die Schranken, in welche der Dichter ſeine Schilderung zuſammenfaßt, als eine Beſchraͤnktheit der geſchilderten Perſon anzuſehen, wie er dies in einem Briefe an an Schiller thut. Ueber Fraͤulein von Klettenberg hat ſich eine muͤndliche Erzaͤhlung erhalten, die merkwuͤrdig iſt. Was in den Bekenntniſſen einer ſchoͤnen Seele von einem ausgezeichneten Manne, der dort mit dem Namen Narciß bezeichnet iſt, und von ſeinem Verhaͤlt¬ niſſe zu der ſchoͤnen Seele geſagt wird, beruht auf thatſaͤchlichen Erlebniſſen, die durch dichteriſche Einklei¬ dung nur wenig ausgefuͤhrt worden. Der Mann, welcher Fraͤulein von Klettenberg heirathen wollte, und mehrere Jahre als ihr Braͤutigam in ihrer Naͤhe lebte, war ein Herr von Olenſchlager, ein geborner Frank¬ furter. Fraͤulein von Klettenberg hatte ſeinen Karakter fruͤh durchſchaut, und wußte es lange vorher, daß er ſich von ihr ganz zuruͤckziehen werde. Sie ſprach dies auch mehrmals unbefangen gegen ihn aus, und bat ihn nur um die einzige Aufrichtigkeit, daß er es ihr nicht verhehlen moͤchte, wenn er einem andern Frauenzimmer
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der gegebenen Bedingniſſe aufzuſtellen. Es war naͤmlich
nicht die Aufgabe, eine religioͤſe Heldin, eine begeiſterte
Prophetin oder Maͤrtyrerin zu ſchildern, ſondern nur
ein ſtilles Leben, ein Leben, das auf der gewoͤhnlichſten
Weltlichkeit ruht, aber dennoch in der Froͤmmigkeit den
Mittelpunkt findet, der es den hoͤchſten Lebensentwick¬
lungen gleichſtellt; Wilhelm von Humboldt hat Unrecht,
die Schranken, in welche der Dichter ſeine Schilderung
zuſammenfaßt, als eine Beſchraͤnktheit der geſchilderten
Perſon anzuſehen, wie er dies in einem Briefe an
an Schiller thut. Ueber Fraͤulein von Klettenberg hat
ſich eine muͤndliche Erzaͤhlung erhalten, die merkwuͤrdig
iſt. Was in den Bekenntniſſen einer ſchoͤnen Seele
von einem ausgezeichneten Manne, der dort mit dem
Namen Narciß bezeichnet iſt, und von ſeinem Verhaͤlt¬
niſſe zu der ſchoͤnen Seele geſagt wird, beruht auf
thatſaͤchlichen Erlebniſſen, die durch dichteriſche Einklei¬
dung nur wenig ausgefuͤhrt worden. Der Mann,
welcher Fraͤulein von Klettenberg heirathen wollte, und
mehrere Jahre als ihr Braͤutigam in ihrer Naͤhe lebte,
war ein Herr von Olenſchlager, ein geborner Frank¬
furter. Fraͤulein von Klettenberg hatte ſeinen Karakter
fruͤh durchſchaut, und wußte es lange vorher, daß er
ſich von ihr ganz zuruͤckziehen werde. Sie ſprach dies
auch mehrmals unbefangen gegen ihn aus, und bat ihn
nur um die einzige Aufrichtigkeit, daß er es ihr nicht
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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837, S. 458. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/472>, abgerufen am 24.11.2024.
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