Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837.

Bild:
<< vorherige Seite

führten, so leitet hier den Werther ein wundervoller
Prolog auf seine neue Bahn, ein Gedicht, vor dem
man staunend weilt, und fragt, in welcher Dichterbrust
noch solche Kraft des Gefühls und solche Reife der Lebens¬
einsicht zusammenwohne? Mit aller Frische des Jünglings¬
lebens redet der Dichter den "vielbeweinten" Schatten an:

Es ist als ob du lebtest in der Frühe,
Wo uns der Thau auf Einem Feld erquickt,
Und nach des Tages unwillkommer Mühe
Der Scheidesonne letzter Strahl entzückt;
Zum Bleiben ich, zum Scheiden du erkoren,
Gingst du voran, und hast nicht viel verloren.
Und am Schlusse heißt es:

Wie klingt es rührend, wenn der Dichter singt,
Den Tod zu meiden, den das Scheiden bringt!
Verstrickt in solche Qualen, halbverschuldet,
Geb' ihm ein Gott, zu sagen was er duldet!

Die Verlagshandlung hat ein wohl getroffenes schö¬
nes Bild von Goethe dem Büchlein vorangesetzt, das
sich durch diese Mitgabe noch besonders empfiehlt. In
Weihnachts- und Neujahrsgeschenken wird noch immer
gern der Empfindsamkeit gehuldigt; die schlummernde
zu wecken und die geweckte zu befriedigen mag denn
auch Werther wieder einmal versuchen! Möge ihm Heil
widerfahren auf seinen Wegen, möge ihm in würdigen
Kreisen reich erneuerte Blüthe und Frucht gedeihen!


fuͤhrten, ſo leitet hier den Werther ein wundervoller
Prolog auf ſeine neue Bahn, ein Gedicht, vor dem
man ſtaunend weilt, und fragt, in welcher Dichterbruſt
noch ſolche Kraft des Gefuͤhls und ſolche Reife der Lebens¬
einſicht zuſammenwohne? Mit aller Friſche des Juͤnglings¬
lebens redet der Dichter den „vielbeweinten“ Schatten an:

Es iſt als ob du lebteſt in der Fruͤhe,
Wo uns der Thau auf Einem Feld erquickt,
Und nach des Tages unwillkommer Muͤhe
Der Scheideſonne letzter Strahl entzuͤckt;
Zum Bleiben ich, zum Scheiden du erkoren,
Gingſt du voran, und haſt nicht viel verloren.
Und am Schluſſe heißt es:

Wie klingt es ruͤhrend, wenn der Dichter ſingt,
Den Tod zu meiden, den das Scheiden bringt!
Verſtrickt in ſolche Qualen, halbverſchuldet,
Geb’ ihm ein Gott, zu ſagen was er duldet!

Die Verlagshandlung hat ein wohl getroffenes ſchoͤ¬
nes Bild von Goethe dem Buͤchlein vorangeſetzt, das
ſich durch dieſe Mitgabe noch beſonders empfiehlt. In
Weihnachts- und Neujahrsgeſchenken wird noch immer
gern der Empfindſamkeit gehuldigt; die ſchlummernde
zu wecken und die geweckte zu befriedigen mag denn
auch Werther wieder einmal verſuchen! Moͤge ihm Heil
widerfahren auf ſeinen Wegen, moͤge ihm in wuͤrdigen
Kreiſen reich erneuerte Bluͤthe und Frucht gedeihen!


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0457" n="443"/>
fu&#x0364;hrten, &#x017F;o leitet hier den Werther ein wundervoller<lb/>
Prolog auf &#x017F;eine neue Bahn, ein Gedicht, vor dem<lb/>
man &#x017F;taunend weilt, und fragt, in welcher Dichterbru&#x017F;t<lb/>
noch &#x017F;olche Kraft des Gefu&#x0364;hls und &#x017F;olche Reife der Lebens¬<lb/>
ein&#x017F;icht zu&#x017F;ammenwohne? Mit aller Fri&#x017F;che des Ju&#x0364;nglings¬<lb/>
lebens redet der Dichter den &#x201E;vielbeweinten&#x201C; Schatten an:<lb/><lg type="poem"><l>Es i&#x017F;t als ob du lebte&#x017F;t in der Fru&#x0364;he,</l><lb/><l>Wo uns der Thau auf Einem Feld erquickt,</l><lb/><l>Und nach des Tages unwillkommer Mu&#x0364;he</l><lb/><l>Der Scheide&#x017F;onne letzter Strahl entzu&#x0364;ckt;</l><lb/><l>Zum Bleiben ich, zum Scheiden du erkoren,</l><lb/><l>Ging&#x017F;t du voran, und ha&#x017F;t nicht viel verloren.</l><lb/></lg> Und am Schlu&#x017F;&#x017F;e heißt es:</p><lb/>
          <lg type="poem">
            <l>Wie klingt es ru&#x0364;hrend, wenn der Dichter &#x017F;ingt,</l><lb/>
            <l>Den Tod zu meiden, den das Scheiden bringt!</l><lb/>
            <l>Ver&#x017F;trickt in &#x017F;olche Qualen, halbver&#x017F;chuldet,</l><lb/>
            <l>Geb&#x2019; ihm ein Gott, zu &#x017F;agen was er duldet!</l><lb/>
          </lg>
          <p>Die Verlagshandlung hat ein wohl getroffenes &#x017F;cho&#x0364;¬<lb/>
nes Bild von Goethe dem Bu&#x0364;chlein vorange&#x017F;etzt, das<lb/>
&#x017F;ich durch die&#x017F;e Mitgabe noch be&#x017F;onders empfiehlt. In<lb/>
Weihnachts- und Neujahrsge&#x017F;chenken wird noch immer<lb/>
gern der Empfind&#x017F;amkeit gehuldigt; die &#x017F;chlummernde<lb/>
zu wecken und die geweckte zu befriedigen mag denn<lb/>
auch Werther wieder einmal ver&#x017F;uchen! Mo&#x0364;ge ihm Heil<lb/>
widerfahren auf &#x017F;einen Wegen, mo&#x0364;ge ihm in wu&#x0364;rdigen<lb/>
Krei&#x017F;en reich erneuerte Blu&#x0364;the und Frucht gedeihen!</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[443/0457] fuͤhrten, ſo leitet hier den Werther ein wundervoller Prolog auf ſeine neue Bahn, ein Gedicht, vor dem man ſtaunend weilt, und fragt, in welcher Dichterbruſt noch ſolche Kraft des Gefuͤhls und ſolche Reife der Lebens¬ einſicht zuſammenwohne? Mit aller Friſche des Juͤnglings¬ lebens redet der Dichter den „vielbeweinten“ Schatten an: Es iſt als ob du lebteſt in der Fruͤhe, Wo uns der Thau auf Einem Feld erquickt, Und nach des Tages unwillkommer Muͤhe Der Scheideſonne letzter Strahl entzuͤckt; Zum Bleiben ich, zum Scheiden du erkoren, Gingſt du voran, und haſt nicht viel verloren. Und am Schluſſe heißt es: Wie klingt es ruͤhrend, wenn der Dichter ſingt, Den Tod zu meiden, den das Scheiden bringt! Verſtrickt in ſolche Qualen, halbverſchuldet, Geb’ ihm ein Gott, zu ſagen was er duldet! Die Verlagshandlung hat ein wohl getroffenes ſchoͤ¬ nes Bild von Goethe dem Buͤchlein vorangeſetzt, das ſich durch dieſe Mitgabe noch beſonders empfiehlt. In Weihnachts- und Neujahrsgeſchenken wird noch immer gern der Empfindſamkeit gehuldigt; die ſchlummernde zu wecken und die geweckte zu befriedigen mag denn auch Werther wieder einmal verſuchen! Moͤge ihm Heil widerfahren auf ſeinen Wegen, moͤge ihm in wuͤrdigen Kreiſen reich erneuerte Bluͤthe und Frucht gedeihen!

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/457
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837, S. 443. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/457>, abgerufen am 27.11.2024.